189 - Die Regenbogenschlange
ging.
Die Bezeichnung »Schlund« passte besser denn je. Aruula hatte das Gefühl, als würde sie in das geöffnete Maul eines hungrigen Urwesens absteigen, immer tiefer hinab, als freiwillige Opfergabe.
Sie hasste es, nicht die geringste Vorstellung davon zu haben, was sie erwartete. Durangi hatte es entweder nicht gewusst oder nicht sagen wollen.
Als über ihr nur noch ein schmaler Streifen blauen Himmels sichtbar war, blieb Aruula stehen. Längst konnte sie die wartenden Anangu nicht mehr sehen, und umgekehrt war es sicher genauso. Aber wahrscheinlich konnten sie Aruulas Gedanken immer noch fühlen, wohingegen sie weiterhin auf eine unüberwindliche Mauer stieß.
Aruula sog die kühle feuchte Luft in ihre Lungen. Die Abkühlung tat gut, fast genauso erfrischend wie die ausgiebige Dusche gestern. Kein Wunder, dass alle auf diesem Kontinent verrückt waren; die ununterbrochene Hitze und die leeren Weiten dörrten jeden aus. Ausnahmslos alle Tiere waren unberechenbar, meistens angriffslustig und giftig, und die Ureinwohner waren kaum als Menschen zu bezeichnen, denn sie verfügten über seltsame Kräfte oder waren körperlich verändert, mit animalischen Zügen.
Es ging immer tiefer, doch es wurde nicht dunkler. Aruula sah staunend, dass sich immer mehr Löcher und Risse im Gestein zeigten, bis die Wand, an der ihr Pfad entlang führte, geradezu durchlöchert aussah, mit vielen auch für Menschen begehbaren Zugängen. Es musste Schächte und Kamine nach oben geben, denn stellenweise fiel Licht ein und verbreitete eine seltsame, diffuse Helligkeit, die bizarre Schatten warf.
Eine unwirkliche, abgeschiedene Welt öffnete sich vor Aruula, die dem Pfad zusehends fasziniert folgte.
Zumindest in dieser Hinsicht hatte Durangi die Wahrheit gesagt: Die Höhlen waren immer noch da, und wenigstens teilweise schienen sie nicht verschüttet zu sein.
Aruula hatte keine Vorstellung, wie sie den richtigen Zugang finden sollte, aber momentan machte sie sich noch keine Gedanken. Der Pfad ging weiter, tiefer hinab, und der Schamane hatte etwas vom »Ende« gemurmelt, wo es den Eingang geben sollte.
Es war sehr still hier unten; aber eine ganz andere Stille als die, welche Aruula von der einsamen Reise durch die Wüste gewohnt war. Diese Stille hatte einen Klang, nach Alter und Starre, bedeckt mit einer dämpfigen Patina, eine Erinnerung an das erste Wasser, das nach dem Erlöschen der Vulkane auf die junge Erde fiel.
Sie stieg in die Vergangenheit hinab, Jahrzehntausende noch hier oben an dieser Stelle, und Millionen, je weiter sie nach unten kam. Plötzlich wusste sie, wo der Grund des Schlunds lag, und sie sah ihn fast vor sich. Die Jugend der Erde würde dort unten zu finden sein, der Ursprung aller Mythen und Götter, lange vor der Schöpfung der Menschen.
Fast reizte es sie, so weit zu gehen. Selbst der Ruf war hier viel schwächer; zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte Aruula sich viel leichter im Kopf, irgendwie befreit. Fast… glücklich.
Dies hier war etwas sehr Ursprüngliches, eine Fährte zu sich selbst. Hier gab es keine Bedrohung, keinen Kampf, kein Leid.
Auch keine Einsamkeit, denn all die Erinnerungen der vergangenen Äonen umgaben sie, sie hörte das Echo in ihrem Kopf wispern, und fühlte sich zu Hause. Und willkommen.
Immer wieder verharrte Aruula, verloren in den Zauber der alten Welt, älter als die Traumzeit, die ein Teil von ihr war. Die Luft war so rein wie kristallklares Wasser, unverdorben, unbeeinflusst vom Lichtwechsel, Hitze und Kälte, von den Düften und Ausdünstungen der Pflanzen und Tiere. Das Leben kurz vor dem Beginn.
Aruulas Blick trübte sich leicht, als sie weiterging; als ob sie eine Schwelle überschritt. Ein weißer Schatten huschte an ihr vorüber, hob sich gegen die Dunkelheit ab; hier hatte sich alles umgekehrt. Aruula blinzelte, als der diffuse Schatten verharrte und ihr seinen Kopf mit den spitzen Ohren zuwandte, und sie sah schillernde Augen aufblitzen.
Dieser Weg.
Natürlich, der Pfad hatte die letzte Biegung genommen und verlief nun ebenerdig, verlor sich irgendwo weiter hinten.
»Warte auf mich«, flüsterte Aruula. »Ich weiß, ich sollte nicht vergessen…«
Der Schatten verschwand in der Wand.
Erstaunt folgte Aruula.
***
Sehr viele Höhleneingänge zweigten ab, die Aruula alle hätte begehen können. Doch dies war nicht die Stelle, wo der weiße Schatten verschwunden war. Sie konnte es spüren, keiner dieser Eingänge war richtig.
Dann, plötzlich, glaubte
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