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19 Minuten

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Titel: 19 Minuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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in einem Fall, in dem ihre Tochter Zeugin war, nicht unbefangen sein konnte. Richterin Cormier würde bestimmt die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Diana beschloss, sich darüber nicht weiter den Kopf zu zerbrechen.
    Auf der Heimfahrt vom Gericht kam Alex an der improvisierten Gedenkstätte für die Opfer der Sterling High vorbei: zehn weiße Kreuze, obwohl ein Kind - Justin Friedman - Jude gewesen war.
    Alex hielt an. Sie wusste nicht, warum sie es gerade jetzt tat, warum sie es nicht schon früher getan hatte. Ihre Absätze sanken tief ins weiche Gras. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und ging zu den Kreuzen.
    Sie waren in keiner bestimmten Reihenfolge aufgestellt, und die Namen der Toten waren jeweils in die hölzerne Querstrebe eingeschnitzt. Die meisten Namen sagten Alex nichts, aber die Kreuze für Courtney Ignatio und Maddie Shaw waren direkt nebeneinander. Die Blumen, die Menschen davor abgelegt hatten, waren verwelkt. Alex kniete sich hin und zupfte einen Zettel mit einem Gedicht gerade, der an Courtneys Kreuz hing.
    Courtney und Maddie hatten manchmal bei Josie übernachtet. Alex erinnerte sich an die Mädchen, an ihre Bewegungen, fließend wie Wellen. Sie erinnerte sich, wie sie sie beneidet hatte, um ihre Jugend, um das Wissen, noch keinen Fehler gemacht zu haben, der ihr ganzes Leben verändern würde. Sogleich spürte Alex den Stich ihres schlechten Gewissens: Sie hatte wenigstens noch ein Leben, das sich verändern konnte.
    Doch erst an dem Kreuz für Matt Royston kamen Alex die Tränen. Ein gerahmtes Foto in einer Plastikhülle lehnte am Fuß des Kreuzes: Matt mit leuchtenden Augen, einen Arm um Josies Schultern gelegt.
    Josie blickte nicht in die Kamera. Ihre Augen waren auf Matt gerichtet, als könnte sie gar nichts anderes sehen.
    Irgendwie war es sicherer, an dieser Gedenkstätte die Fassung zu verlieren, als zu Hause, wo Josie sie weinen hören könnte. So ruhig und gefasst sie in Josies Beisein bislang auch gewesen war, der einzige Mensch, dem sie nichts vormachen konnte, war sie selbst. Auch wenn sie so weiterlebte, als wäre nichts geschehen, auch wenn sie sich einredete, sie könne froh sein, dass Josie Glück gehabt hatte, allein unter der Dusche oder in der Grauzone zwischen Schlafen und Wachen kam es immer wieder vor, dass Alex unkontrolliert zitterte, wie jemand, der mit dem Auto knapp einem Unfall entgangen ist.
    Alex stand auf und holte tief Luft. Auf dem Rückweg zum Wagen bemerkte sie das kleine Loch an der Stelle, wo ein elftes Kreuz gestanden hatte. Irgendwer hatte noch eines dazugestellt, mit Peter Houghtons Namen darauf. Nacht für Nacht war dieses zusätzliche Kreuz umgekippt oder zerstört worden. In der Zeitung waren sogar Artikel darüber erschienen: Hatte Peter Houghton ein Kreuz verdient, wo er doch noch am Leben war? War es eine Tragödie? War es blanker Hohn, seiner zu gedenken? Irgendwann hatte der oder die Unbekannte Peters Kreuz nicht mehr ersetzt.
    Als Alex sich wieder hinters Lenkrad schob, fiel ihr auf, dass sie bis jetzt den Gedanken verdrängt hatte, dass es jemanden gab, der auch Peter Houghton für ein Opfer hielt.
    Seit dem dunklen Tag, wie Lacy ihn inzwischen bezeichnete, hatte sie drei Babys entbunden. Jedes Mal war irgendwas schiefgegangen, nicht für die Mutter, sondern für die Hebamme, denn die Geburten selbst verliefen problemlos. Wenn Lacy den Kreißsaal betrat, fühlte sie sich wie vergiftet, zu negativ, um ein neues Menschenkind in dieser Welt willkommen zu heißen. Wenn sie sich dann von den neuen Müttern verabschiedete, wusste Lacy, dass sie ihnen die falschen Ratschläge mit auf den Weg gab. Statt solcher Phrasen wie: Er soll ruhig trinken, wenn er möchte, oder: Man kann ein Baby gar nicht genug im Arm halten, hätte sie ihnen lieber die Wahrheit sagen sollen: Das Kind, auf das ihr gewartet habt, ist nicht das, das ihr euch erträumt. Ihr seid jetzt Fremde, und ihr werdet in vielen Jahren noch Fremde sein.
    Früher hatte sie manchmal im Bett gelegen und sich ausgemalt, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie nicht Mutter geworden wäre. Sie erinnerte sich, wie Joey ihr einen kleinen Strauß aus Löwenzahn und Klee brachte; wie Peter an ihrer Brust einschlief, das Ende ihres Zopfes fest in der kleinen Faust. Die Mutterschaft hatte Lacys Welt bunter gemacht, hatte sie mit der Gewissheit erfüllt, dass ihr Leben unmöglich noch vollkommener sein könnte.
    Sie hatte es niemandem verraten, aber wenn sie jetzt im Bett lag und darüber

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