19 Minuten
zugemacht«, sagte Michael. »Ich dachte, er bringt mich um.«
»Und dann?« »Hab ich so ein Geräusch gehört, und als ich die Augen aufmachte, hat er gerade das Ding, wo die Patronen reinkommen, rausgezogen und ein neues reingesteckt.«
Die Staatsanwältin trat an einen Tisch und hielt ein Pistolenmagazin hoch. Allein bei dem Anblick lief es Michael kalt über den Rücken. »Meinst du so eins?«, fragte sie.
»Ja.«
»Was geschah danach?«
»Er hat mich nicht erschossen«, sagte Michael. »Drei Leute sind quer durch die Sporthalle gerannt, und er ist hinter ihnen her in den Umkleideraum.«
»Und Justin?«
»Ich hab es gesehen«, flüsterte Michael. »Ich hab sein Gesicht gesehen, als er starb.«
Das war das Erste, was er morgens beim Aufwachen vor sich sah, und das Letzte, wenn er sich schlafen legte: dieser Moment, als der Glanz in Justins Augen erlosch.
Die Staatsanwältin kam näher. »Michael«, sagte sie, »geht's noch?«
Er nickte.
»Du und Justin, wart ihr beide Sportskanonen?«
»Kein bisschen«, gab er zu.
»Habt ihr zu den coolen Kids gehört?«
»Nein.«
»Seid ihr beide je von jemandem in der Schule schikaniert worden?«
Zum ersten Mal schaute Michael kurz zu Peter Houghton hinüber. »Wer wurde das nicht?«, sagte er.
Zuerst erkannte Peter sie nicht. Das Mädchen, das von einer Pflegerin zum Zeugenstand geführt wurde, wo es vorsichtig Platz nahm, hatte kurz geschorenes Haar unter dem Kopfverband und ein durch Narben und zerschmetterte Knochen entstelltes Gesicht.
»Bitte nenn deinen Namen fürs Protokoll«, bat die Staatsanwältin.
»Haley«, sagte das Mädchen leise. »Haley Weaver.«
»Im letzten Schuljahr warst du in der Abschlussklasse?«
Ihr Mund rundete sich und wurde wieder glatt. Die Narbe, die sich über ihre Schläfe zog, lief dunkelrot an. »Ja«, sagte sie. Sie schloss die Augen, und eine Träne lief ihr über die hohle Wange. »Da bin ich zur Schönheitskönigin gewählt worden.« Sie beugte sich vor und schwankte leicht, während sie weinte.
Peter tat die Brust so weh, als würde sie gleich platzen. Er dachte, wenn er einfach tot umfiele, würde das allen weitere Zeugenaussagen ersparen. Er traute sich nicht, den Blick zu heben, weil er dann wieder Haley Weaver sehen würde.
»Wir machen eine kurze Pause«, sagte Richter Wagner, und Peter ließ den Kopf auf den Tisch der Verteidigung sinken, weil er das Gewicht nicht mehr tragen konnte.
Die Zeugen waren getrennt untergebracht. Die der Anklagevertretung in einem Raum, die der Verteidigung in einem anderen. Auch die Polizisten hatten ein eigenes Zimmer. Die Zeugen sollten einander nicht begegnen, aber keiner sagte was, wenn man in die Cafeteria ging, um sich einen Kaffee oder einen Donut zu holen. Bei einem ihrer Cafeteriabesuche hatte Josie Haley gesehen, die Orangensaft durch einen Strohhalm trank. Brady war bei ihr und hielt das Glas für sie.
Die beiden hatten sich gefreut, Josie zu sehen, aber sie war froh, als sie gingen. Es tat körperlich weh, Haley anzulächeln und so zu tun, als starrte man nicht auf die Löcher und Furchen in ihrem Gesicht. Sie hatte Josie erzählt, dass sie schon dreimal von einem plastischen Chirurgen in New York operiert worden war, der die Opfer des Amoklaufs kostenlos behandelte.
Brady hielt immerzu ihre Hand und strich ihr manchmal übers Haar. Josie hätte fast losgeheult, weil sie wusste, dass er Haley noch immer so sah, wie das sonst niemand mehr konnte.
Es waren auch noch andere da, die Josie seit dem schrecklichen Tag nicht mehr gesehen hatte. Lehrer wie Ms. Ritolli und Coach Spears, die rüberkamen und sie begrüßten. Der DJ vom Schülerradio, der Jahrgangsbeste mit der schlimmen Akne. Sie alle
tauchten nacheinander in der Cafeteria auf, während Josie sich an ihrem Kaffee festhielt.
Sie blickte auf, als Drew sich ihr gegenüber auf einen Stuhl fallen ließ. »Wieso bist du nicht bei uns im Raum?«
»Ich steh auf der Zeugenliste der Verteidigung.« Oder, wie bestimmt jeder in dem anderen Raum dachte, auf der Verräterseite.
»Ach so«, sagte Drew, als hätte er verstanden, was bestimmt nicht der Fall war. »Und? Bist du bereit für deinen Auftritt?«
»Muss ich nicht. Ich werde nicht aufgerufen.«
»Aber was machst du dann hier?«
Ehe sie antworten konnte, winkte Drew jemandem zu, und dann sah sie, dass John Eberhard hereingekommen war. »He Alter«, rief Drew, und John kam auf sie zu. Er hinkte, aber er konnte gehen. Er beugte sich vor, um Drew mit einem
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