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»aber das versetzt mich nicht in einen dissoziativen Zustand.«
»Für Peter war der Computer immer eine Zuflucht gewesen, ein Werkzeug, mit dem er sich eine eigene Welt erschaffen hatte, eine Welt, die von Figuren bevölkert wurde, die ihn schätzten und die er kontrollieren konnte, ganz anders als die Menschen in seiner realen Welt. Dass er in dieser Sicherheitszone jetzt auch noch Demütigungen erfuhr, löste den Bruch aus.«
Jordan verschränkte die Arme, gab den Advocatus Diaboli. »Nun ... es geht schließlich bloß um eine E-Mail. Kann man das denn tatsächlich mit dem Trauma vergleichen, das Soldaten im Irak erleiden oder Überlebende des elften September?«
»Traumatische Ereignisse haben auf unterschiedliche Menschen unterschiedliche Auswirkungen. Eine posttraumatische Belastungsstörung kann durch Kriegserlebnisse ausgelöst werden, durch einen Terroranschlag, durch sexuelle Ubergriffe oder auch durch schwere Demütigungen in der Schule. Das eigentliche Ereignis ist weniger wichtig als der emotionale Ausgangspunkt der Betroffenen.«
King wandte sich den Geschworenen zu. »Vielleicht haben Sie schon einmal von dem Misshandlungssyndrom bei geschlagenen Frauen gehört. Von außen betrachtet, ergibt es keinen Sinn, wenn eine Frau - selbst eine Frau, die über Jahre hinweg vikti-misiert wurde - ihren Mann tötet, während er schlafend im Bett liegt.«
»Einspruch«, rief Diana. »Hier steht keine geschlagene Frau vor Gericht.«
»Einspruch abgelehnt«, sagte Richter Wagner.
»Selbst wenn eine geschlagene Frau nicht unmittelbar bedroht ist, fühlt sie sich dennoch bedroht, weil ein chronisches eskalierendes Gewaltmuster bei ihr zu einer PTBS geführt hat. Sie lebt in der permanenten Angst, dass etwas passieren wird, dass es immer wieder passieren wird, und deshalb greift sie irgendwann zur Waffe, auch wenn ihr Mann in diesem Moment friedlich schläft. Für sie stellt er dennoch eine unmittelbare Gefahr dar«, erklärte King. »Ein Kind, das wie Peter an einer PTBS leidet, lebt in der Angst, dass es irgendwann von den übermächtigen Schlägertypen an der Schule getötet wird. Auch wenn es gerade nicht in einen Schrank gesperrt oder verhauen wird, wähnt es sich in ständiger Lebensgefahr. Und so greift es - wie die geschlagene Frau - zur Gewalt, selbst wenn es für Außenstehende in diesem Moment keinen sichtbaren Anlass dafür gibt.«
»Müsste eine solche irrationale Angst denn nicht von anderen bemerkt werden?«, fragte Jordan.
»Eher nicht. Ein Junge wie Peter, der unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, hat sich bereits vergeblich um Hilfe bemüht und gibt diese Versuche irgendwann auf, während die Viktimisierung weitergeht. Er isoliert sich von anderen, weil er nie weiß, wann ein sozialer Kontakt wieder in einer weiteren Demütigung endet. Wahrscheinlich denkt er an Selbstmord. Er flüchtet sich in eine Phantasiewelt, in der er selbst das Sagen hat. Aber er zieht sich immer öfter dorthin zurück, bis er schließlich kaum noch in der Lage ist, Phantasie von Wirklichkeit zu unterscheiden. Es kann sein, dass sich ein Junge mit einer PTBS, wenn er schikaniert wird, in einen anderen Bewusstseinszustand flüchtet - dass er dissoziiert, um keinen Schmerz, keine Erniedrigung zu empfinden. Und ich glaube, genau das ist am sechsten März mit Peter geschehen.«
»Obwohl von den Mitschülern, die ihn schikaniert hatten, keiner bei ihm war, als die E-Mail auf dem Monitor auftauchte?«
»Richtig. Peter war jahrelang geschlagen und verhöhnt und bedroht worden, bis er schließlich glaubte, dass seine Mitschüler ihn töten würden, wenn er nichts dagegen unternahm. Die unbeabsichtigte Lektüre der E-Mail löste einen dissoziativen Zustand aus, und als er zur Sterling Highschool fuhr und das Feuer eröffnete, war ihm überhaupt nicht bewusst, was er da tat.«
»Wie lang kann so ein dissoziativer Zustand anhalten?«
»Kommt drauf an. Unter Umständen mehrere Stunden.«
»Stunden?«, wiederholte Jordan.
»Aber ja. Für mich deutet während des gesamten Amoklaufes nichts darauf hin, dass er sich seiner Tat bewusst war.«
Jordan blickte kurz zur Staatsanwältin hinüber. »Wir haben hier ein Video gesehen, in dem Peter sich in der Cafeteria umgeben von Opfern an einen Tisch setzt und eine Portion Rice Krispies isst.«
»Ja. Offen gestanden, ich kann mir keinen deutlicheren Beweis dafür denken, dass Peter in diesem Moment noch immer dissoziierte. Da sieht man einen Jungen, der gar nicht
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