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Titel: 19 Minuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Rückzug in eine Phantasiewelt belegt sehen, ist das richtig?« »Ja.«
    »Und diese wiederum machten sie an den Computerspielen fest, von denen Peter Ihnen erzählt hat?«
    »Korrekt.«
    »Könnte Peter bei den Fotos, die Dr. Ghertz ihm vorgelegt hat, ein lächelndes Gesicht als zornig bezeichnet haben, weil er wusste, dass das Ihre Diagnose untermauern würde?«
    »Das wäre denkbar.«
    »Sie haben außerdem gesagt, Peter habe am Morgen des sechsten März eine E-Mail gelesen und sei dadurch in einen dis-soziativen Zustand versetzt worden, der bis lange nach der Tat anhielt. Haben Sie für diese Behauptung irgendeinen anderen Beweis als das, was Peter Houghton Ihnen erzählt hat?«
    King Wah schüttelte den Kopf. »Nein, aber jeder andere Psychiater wäre zu dem gleichen Schluss gelangt.«
    Diana zog eine Augenbraue hoch. »Jeder Psychiater, der zweitausend Dollar am Tag berechnet«, sagte sie und zog die Bemerkung zurück, noch ehe Jordan Einspruch erheben konnte. »Sie sagten, Peter habe Selbstmordphantasien gehabt.«
    »Ja.«
    »Er wollte sich also umbringen?«
    »Ja. Das ist bei Patienten mit PTBS sehr verbreitet.«
    Diana sah ihn an. »Dr. Wah, mit der Munition, die Peter am sechsten März dabeihatte, hätte er sich etwa zweihundertmal selbst töten können, anstatt auf andere Schüler zu schießen. Hab ich recht?«
    »Ja. Aber die Trennlinie zwischen Selbstmord und Mord ist extrem dünn. Viele depressive Menschen, die den Vorsatz haben, sich zu erschießen, entscheiden sich im letzten Moment dafür, stattdessen jemand anders zu töten.«
    Diana runzelte die Stirn. »Ich dachte, Peter hätte sich in einem dissoziativen Zustand befunden«, sagte sie. »Ich dachte, er wäre gar nicht in der Lage gewesen, Entscheidungen zu treffen.«
    »Das ist richtig. Er hat abgedrückt, ohne an die Konsequenzen zu denken oder zu wissen, was er da tat.«
    »Dr. Wah, Sie haben außerdem gesagt, Peters Dissoziation
    habe erst aufgehört, als Detective Ducharme ihn auf dem Präsidium vernommen hat, richtig?« »Ja.«
    »Wie erklären Sie sich dann, dass Peter Stunden zuvor, als drei Officer auf ihn zielten und ihn aufforderten, seine Pistole fallen zu lassen, durchaus in der Lage war, dieser Aufforderung Folge zu leisten?«
    Dr. Wah zögerte. »Nun ja.«
    »Das ist doch wohl eine angemessene Reaktion, wenn drei Polizisten ihre Waffen auf einen gerichtet haben, oder?«
    »Er ließ die Waffe fallen«, sagte der Psychiater, »weil er im Unterbewusstsein begriff, dass er sonst erschossen würde.«
    »Aber Dr. Wah«, sagte Diana. »Sie haben doch vorhin gesagt, dass Peter sterben wollte.«
    Als Peter an diesem Tag zurück in seine Zelle gebracht wurde, reichte ihm der Aufseher einen Brief. Er setzte sich auf das untere Bett, lehnte sich gegen die Wand und inspizierte den Umschlag. Seit Jordans Gardinenpredigt, weil er mit der Journalistin geredet hatte, war er auf der Hut, was Post anging. Aber auf diesem Umschlag war die Adresse nicht getippt wie bei dem anderen, sondern mit der Hand geschrieben, und über den i's schwebten kleine Kringel wie Wölkchen.
    Er riss ihn auf und faltete das Briefpapier auseinander. Es roch ganz schwach nach Orangen.
    Lieber Peter,
    du kennst meinen Namen nicht, aber ich war Nummer 9. Die Zahl stand mit Textmarker auf meiner Stirn, als man mich aus der Schule getragen hat. Du hast versucht, mich zu töten.
    Ich bin nicht bei deinem Prozess dabei, also such mich gar nicht erst unter den Zuschauern. Ich konnte es nicht mehr ertragen, in Sterling zu leben, deshalb ist meine Familie vor einem Monat umgezogen. Nächste Woche fange ich hier in Minnesota mit der Schule an, aber schon jetzt haben alle von mir gehört: Ich bin die Überlebende von Sterling High. Ich habe keine Interessen, ich habe keine Persönlichkeit, ich habe keine Geschichte, außer der, die du mir gegeben hast.
    Ich war ganz gut in der Schule, aber jetzt sind mir Noten ziemlich egal. Ich hatte große Träume, aber jetzt weiß ich nicht mal, ob ich noch aufs College gehen will, wo ich doch noch immer keine Nacht durchschlafen kann. Ich kriege Panik, wenn Leute leise von hinten näher kommen oder irgendwo eine Tür zuknallt. Ich bin lange genug in Therapie, um eines mit Sicherheit sagen zu können: Ich werde Sterling nie wieder betreten.
    Du hast mir in den Rücken geschossen. Die Ärzte meinten, ich hätte noch Glück gehabt - wenn ich in dem Moment geniest oder mich umgedreht hätte, um dich anzusehen, würde ich jetzt im Rollstuhl sitzen.

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