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19 Minuten

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Titel: 19 Minuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Peter wieder.
    Patrick ließ Peters Zelle von dem Sergeant öffnen und führte den Jungen in die Küche. Für den Fall, dass Peter sich bereit erklären sollte, Fragen zu beantworten, hatte er bereits einen Camcorder aufstellen lassen. Er bat Peter, an dem verkratzten Tisch Platz zu nehmen, und schenkte zwei Tassen Kaffee ein. Er fragte Peter nicht, wie er den Kaffee gern hätte, tat einfach Zucker und Milch hinein und stellte dem Jungen eine Tasse hin.
    Dann setzte Patrick sich ebenfalls. Zum ersten Mal betrachtete er den Jungen richtig. Peter Houghton war schmächtig und blass, er trug eine Nickelbrille und hatte Sommersprossen. Ein Vorderzahn war schief, und sein Adamsapfel wirkte riesig. Seine Fingerknöchel waren knorrig und aufgeschürft. Er weinte leise, was durchaus Mitleid hätte erregen können, wenn sein T-Shirt nicht mit dem Blut seiner Mitschüler besudelt gewesen wäre.
    »Geht's einigermaßen, Peter?«, fragte Patrick. »Hast du Hunger?«
    Der Junge schüttelte den Kopf.
    »Kann ich sonst irgendwas für dich tun?«
    Peter legte den Kopf auf den Tisch. »Ich will zu meiner Mom«, flüsterte er.
    Patrick starrte auf den Scheitel des Jungen. Hatte er am Morgen beim Kämmen gedacht, Heute ist der Tag, an dem ich zehn Schüler töte ? »Ich möchte mit dir darüber sprechen, was heute passiert ist. Wärst du dazu bereit?«
    Peter antwortete nicht.
    »Wenn du es mir erklärst«, drängte Patrick, »dann kann ich es vielleicht allen anderen erklären.«
    Peter hob das Gesicht, weinte jetzt haltlos, und Patrick sah ein, dass er nicht weiterkommen würde. Er seufzte und hievte sich vom Stuhl. »Na schön!«, sagte er. »Gehen wir.«
    Patrick brachte Peter zurück in die Zelle, wo der Junge sich auf dem Boden zusammenrollte, das Gesicht zur Zementwand. Patrick kniete sich hinter ihn, ein letzter, verzweifelter Versuch. »Hilf mir, dir zu helfen«, sagte er, aber Peter schüttelte bloß den Kopf und weinte weiter.
    Erst als Patrick aus der Zelle getreten und den Schlüssel im Schloss umgedreht hatte, hörte er, wie Peter wieder etwas sagte. »Die haben angefangen«, flüsterte er.
    Dr. Guenther Frankenstein war seit sechs Jahren Gerichtsmediziner, genauso lange, wie er in den Siebzigern den Titel Mr. Universum gehalten hatte, ehe er seine Hanteln gegen ein Skalpell eintauschte - oder wie er es gern ausdrückte, ehe er vom Körperformen zum Körperzerlegen überging. Patrick mochte Guenther - und er bewunderte ihn, denn er konnte nach wie vor nicht nur das Dreifache seines eigenen Körpergewichts stemmen, sondern war auch fällig, mit bloßem Auge ziemlich genau einzuschätzen, wie viel Gramm eine Leber wog.
    Dann und wann gingen Patrick und Guenther ein paar Bierchen trinken, und wenn der ehemalige Bodybuilder genug intus hatte, erzählte er dem Detective von den Frauen, die sich damals darum gerissen hatten, ihm vor einem Wettkampf den Körper einzuölen. Heute jedoch war Patrick und Guenther nicht nach Plaudern zumute. Die Gegenwart machte sie sprachlos, während sie stumm durch die Flure gingen, damit Guenther bei den Opfern offiziell den Tod feststellte.
    Patrick hatte sich mit Guenther in der Schule getroffen, nachdem sein Gesprächsversuch mit Peter gescheitert war. Die Staatsanwältin hatte nur mit den Schultern gezuckt, als sie hörte, dass Peter nicht hatte reden wollen. »Wir haben zig Zeugen, die aussagen, dass er zehn Menschen erschossen hat«, hatte Diana gesagt. »Verhaften Sie ihn.«
    Guenther kniete neben dem sechsten Todesopfer, einem jungen Mädchen. Sie war auf der Mädchentoilette erschossen worden und lag mit dem Gesicht nach unten vor dem Waschbecken. Patrick wandte sich an den Schulleiter, Arthur McAllister, der ihnen bei der Identifizierung half. »Kaitlyn Harvey«, sagte der Schulleiter mit belegter Stimme. »War im Förderunterricht... liebes Mädchen.«
    Anhand der Opfer konnte Patrick den Weg verfolgen, den Peter gegangen war, von der Eingangshalle in die Cafeteria (Opfer i und 2: Courtney Ignatio und Maddie Shaw), zur Treppe davor (Opfer 3: Whit Obermeyer), zur Jungentoilette (Opfer 4: Topher McPhee), durch einen Flur (Opfer 5: Grace Murtaugh), in die Mädchentoilette (Opfer 6: Kaitlyn Harvey). Patrick ging die Treppe hoch und folgte oben angekommen einer verschmierten Blutspur in den ersten Klassenraum auf der linken Seite. Vor der Tafel lag das einzige erwachsene Opfer... und daneben kniete ein junger Mann, der die Hand auf die Schusswunde im Bauch des am Boden Liegenden presste.

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