19 Minuten
Sie«, stellte Alex nach einem Blick in die Akte klar, »dass Ihre Mandantin einen Fußgänger angefahren hat.«
»Ja, Euer Ehren.«
Alex wandte sich an die Angeklagte. »Wie geht's dem Fisch?«
Mrs. Calloway lächelte verlegen. »Wunderbar«, sagte sie. »Ich hab ihn Crash getauft.«
Aus dem Augenwinkel sah Alex, wie ein Gerichtsdiener den Saal betrat und flüsternd mit dem Schreiber sprach, der zu Alex herübersah und nickte. Er kritzelte etwas auf einen Zettel, den der Gerichtsdiener daraufhin zu Alex an die Richterbank brachte.
Schießerei in der Sterling Highschool , las sie.
Alex erstarrte. Josie. »Die Sitzung ist vertagt«, flüsterte sie, und dann rannte sie nur noch.
John Eberhard biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich darauf, wieder ein kleines Stück weiterzukommen. Er konnte kaum etwas sehen, weil ihm Blut in die Augen lief, und seine linke Seite war völlig nutzlos. Er konnte auch so gut wie nichts hören -die Ohren dröhnten noch vom Schuss. Dennoch hatte er es vom
Flur im zweiten Stock, wo Peter Houghton ihn angeschossen hatte, in den Materialienraum der Kunstlehrer geschafft.
Er dachte an sein Eishockeytraining und daran, dass man, wenn man ehrlich glaubte, völlig ausgepumpt zu sein, doch immer noch ein bisschen länger durchhielt.
Als er das Metallregal erreichte, auf dem Ton und Farben und Perlen und Draht lagerten, versuchte er, sich daran hochzuziehen, aber ein blendender Schmerz zuckte durch seinen Kopf. Minuten später - oder waren es Stunden? - kam er wieder zu sich. Er wusste nicht, ob er es schon riskieren konnte, auf dem Flur nachzusehen, ob die Gefahr gebannt war. Er lag auf dem Rücken, und irgendwas Kaltes streifte sein Gesicht. Ein Luftzug. Durch einen Riss in der Fensterdichtung.
Ein Fenster.
John musste an Courtney Ignatio denken: Sie hatte ihm am Tisch in der Cafeteria gegenübergesessen, als die Glaswand hinter ihr explodierte. Und plötzlich war mitten auf Courtneys Brust eine Blume erblüht, leuchtend rot wie Klatschmohn. Er musste daran denken, wie unzählige Schreie sich auf einmal zu einem einzigen ohrenbetäubenden Lärm verflochten hatten. Er erinnerte sich an die Köpfe der Lehrer, die sich aus Klassenräumen reckten wie Maulwürfe, an ihre fassungslosen Blicke, als sie die Schüsse hörten.
John zog sich mit einer Hand am Regal hoch, kämpfte gegen das schwarze Dröhnen in seinem Kopf an, das ihm die nächste Ohnmacht ankündigte. Als er schließlich aufrecht stand, zitterte er am ganzen Körper. Er schielte vor Schmerzen und vor Erschöpfung, sodass er sich zwischen zwei Fenstern entscheiden musste, als er eine Dose Farbe nahm und sie durch die Scheibe schleuderte.
Das Glas zersplitterte. Als er es auf die Fensterbank geschafft hatte, konnte er Feuerwehrautos und Rettungswagen sehen. Reporter und Eltern, die sich vor der Polizeiabsperrung drängten. Grüppchen von schluchzenden Schülern. Verletzte, die im Schnee aufgereiht lagen. Sanitäter, die noch mehr herantrugen.
Hilfe , wollte John Eberhard schreien, doch er brachte das
Wort nicht heraus. Er brachte überhaupt kein Wort heraus -nicht mal seinen eigenen Namen.
»He«, rief jemand. »Da oben ist einer!«
John, der mittlerweile schluchzte, versuchte zu winken, aber sein Arm gehorchte ihm nicht.
Immer mehr Leute zeigten auf ihn. »Bleib, wo du bist«, brüllte ein Feuerwehrmann, und John nickte. Aber sein Körper gehörte ihm schon gar nicht mehr, und ehe er begriff, was geschah, verlor er durch die kleine Bewegung das Gleichgewicht, und er stürzte zwei Stockwerke tief auf den Beton.
Diana Leven, die ihre Stelle als stellvertretende Generalstaats-anwältin in Boston aufgegeben hatte, um in ein freundlicheres Arbeitsklima zu wechseln, betrat die Sporthalle der Sterling Highschool und blieb neben einem Jungen stehen, der von einer Kugel in den Hals niedergestreckt worden war. Die Spurensicherer, deren Schuhe auf dem Hallenboden quietschten, machten Fotos und sammelten Patronenhülsen ein, die sie in Beweismit-telbeutel eintüteten. Die Aufsicht hatte Patrick Ducharme.
Als Diana das Ausmaß an Beweismitteln sah, die es zu sichern galt - Kleidungsstücke, Schusswaffen, Blutspuren, verschossene Patronen, Schultaschen, verlorene Turnschuhe - begriff sie, dass sie nicht die Einzige war, auf die ein gewaltiges Stück Arbeit wartete.
»Was wissen wir bisher?«
»Wir gehen von einem Einzeltäter aus. Er ist in Polizeigewahrsam«, sagte Patrick. »Das Gebäude ist gesichert.«
»Wie viele
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