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19 Minuten

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Titel: 19 Minuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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hochgezogen. Er wollte nicht zu erwartungsvoll wirken, nicht jämmerlich. Er konnte sich ziemlich gut unsichtbar machen. Das hatte er in den vergangenen zwölf Jahren perfektioniert.
    Ein Aufseher blieb vor der Zelle stehen. »Du hast Besuch«, sagte er und öffnete die Tür.
    Peter stand langsam auf. Er blickte zur Kamera hoch, dann folgte er dem Aufseher einen schäbigen grauen Gang hinunter.
    Wie schwer mochte es sein, aus dem Knast zu fliehen? Was, wenn er wie in den Computerspielen die Wärter nacheinander mit einem raffinierten Kung-Fu-Trick außer Gefecht setzen könnte, um dann durch das Tor in die Freiheit zu stürmen und gierig die frische Luft einzuatmen, deren Geschmack er bereits beinahe vergessen hatte?
    Was, wenn er hier nie wieder rauskam?
    Der Aufseher blieb vor einer Tür mit der Aufschrift BESPRE-
    CHUNGSRAUM stehen. Peter konnte sich nicht denken, wer ihn außer seinen Eltern besuchen würde, und die wollte er noch nicht sehen. Sie würden ihm Fragen stellen, die er nicht beantworten konnte, und er würde ihnen ansehen, dass sie ihn nicht wiedererkannten. Vielleicht wäre es leichter, einfach wieder zurück in die Zelle zur Kamera zu gehen. Die starrte ihn nur an.
    »Da wären wir«, sagte der Aufseher und öffnete die Tür.
    Jordan betrat das Untersuchungsgefängnis und ging zum Empfangsschalter, um sich als Besucher für Peter Houghton anzumelden und seinen Besucherausweis in Empfang zu nehmen. Er unterschrieb ein Formular auf einem Klemmbrett, doch als er es durch den Schlitz in der Plastikscheibe zurückschob, nahm es keiner entgegen. Die beiden Vollzugsbeamten hinter dem Schalter standen gebannt vor dem kleinen Fernseher, in dem ein Nachrichtenbericht über den Amoklauf in der Schule lief.
    »Entschuldigung«, rief Jordan, aber keiner der Männer drehte sich um.
    »Wie wir inzwischen wissen«, sagte der Reporter, »sah Ed McCabe, als die ersten Schüsse fielen, aus der Tür des Klassenraums, wo er gerade eine Mathestunde abhielt, und stellte sich gleichsam zwischen den Amokschützen und seine Schüler.«
    Eine schluchzende Frau wurde gezeigt, und am unteren Bildschirmrand wurde eingeblendet: JOAN MCCABE, SCHWESTER DES OPFERS. »Er hat sich immer für seine Schüler eingesetzt«, weinte sie. »Die ganzen sieben Jahre, die er Lehrer an der Sterling High war, bis zur letzten Minute seines Lebens.«
    Jordan trat von einem Bein aufs andere. »Nehmen Sie mir das hier bitte ab?«
    »Momentchen«, sagte einer der Beamten und machte eine geistesabwesende Handbewegung.
    Der Reporter erschien wieder auf dem Bildschirm. »Kollegen haben Ed McCabe als engagierten Pädagogen in Erinnerung, der für jeden Schüler stets ein offenes Ohr hatte und der als begeisterter Naturmensch im Lehrerzimmer oft von seinem Traum erzählte, einmal durch Alaska zu wandern. Ein Traum«, sagte der Reporter mit Grabesstimme, »der sich nun nicht mehr erfüllen kann.«
    Jordan schob das Klemmbrett mit Schwung durch den Schlitz im Plexiglas, sodass es scheppernd auf dem Boden landete. Beide Beamten drehten sich gleichzeitig um.
    »Ich will jetzt mit meinem Mandanten sprechen«, sagte er.
    Während der ganzen neunzehn Jahre, die Lewis Houghton Professor am Sterling College war, hatte er nicht eine Vorlesung ausfallen lassen, bis heute. Nach Lacys Anruf hatte er sich Hals über Kopf auf den Weg gemacht und nicht einmal daran gedacht, eine Benachrichtigung an die Tür des Hörsaals zu kleben. Er stellte sich vor, wie die Studenten auf ihn warteten, darauf warteten, seinen Worten zu lauschen, als wäre das, was er zu sagen hätte, noch immer über jeden Tadel erhaben.
    Welches Wort, welche - womöglich ganz beiläufige - Bemerkung hatte Peter verleitet, so etwas zu tun?
    Welches Wort, welche - womöglich ganz beiläufige - Bemerkung hätte ihn davon abhalten können?
    Als Lewis zu Hause ankam, warf sich Lacy, die in der Einfahrt auf und ab tigerte, in seine Arme. »Warum?«, schluchzte sie. »Warum?«
    Das eine Wort enthielt tausend Fragen, aber Lewis konnte keine davon beantworten. Er klammerte sich an seiner Frau fest, als wäre sie Treibholz inmitten dieser Flut.
    Eine Weile standen sie in der Einfahrt und sahen stumm mit an, wie die Beamten nach und nach Taschen und Kisten voll mit Sachen hinausschleppten. Einiges davon leuchtete Lewis ein -Computer und Bücher aus Peters Zimmer -, anderes fand er absurd: ein Tennisschläger, ein Dreierpack Sportsocken, der noch nicht mal aufgeschnitten war.
    »Was sollen wir bloß machen?«,

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