19 Minuten
mit dem Ärmel ab. »Die Gewehre«, sagte der Officer. »Gehören die Ihnen?«
Lewis schluckte. »Ja. Ich bin Jäger.«
»Können Sie uns sagen, ob alle Ihre Schusswaffen da sind?« Der Officer trat beiseite und gab den Blick auf den geöffneten Schrank frei.
Lewis wurden die Knie weich. Drei seiner fünf Jagdwaffen standen in den Halterungen, zwei fehlten.
Bis zu diesem Augenblick hatte Lewis den Gedanken nicht zugelassen, dass Peter zu so etwas Schrecklichem fähig sein könnte. Bis zu diesem Augenblick war es ein verheerendes Unglück gewesen.
Jetzt fing Lewis an, sich die Schuld zu geben.
Er blickte dem Officer in die Augen, ohne seine Gefühle zu zeigen. Das, so wurde Lewis klar, hatte er von seinem Sohn gelernt. »Nein«, sagte er. »Nicht alle.«
Die erste ungeschriebene Regel der Strafverteidigung lautete, so zu tun, als wärst du über alles im Bilde, auch wenn du in Wahrheit gar nichts wusstest. Du hattest mit einem unbekannten Mandanten zu tun, der vielleicht eine Chance auf einen Freispruch hatte, vielleicht aber auch nicht; die Kunst bestand darin, gleichzeitig distanziert und engagiert zu wirken. Du musstest die Parameter der Beziehung von Anfang an festlegen: Ich bin der Boss; du erzählst mir nur, was ich hören muss.
Jordan war schon zahllose Male in dieser Situation gewesen: in einem Besprechungsraum im Untersuchungsgefängnis zu sitzen und auf seine nächste Einnahmequelle zu warten. Er war der festen Überzeugung, dass ihn nichts mehr überraschen konnte.
Aber von Peter Houghton war er ehrlich überrascht: Da war diese Wahnsinnstat mit so vielen Opfern, die Fernsehbilder von Menschen, denen das blanke Entsetzen im Gesicht stand - und dieser magere, sommersprossige, bebrillte Junge sollte zu so etwas fähig sein? Eigentlich unvorstellbar.
Das war Jordans erster Gedanke. Der zweite war: Das ist schon mal ein Pluspunkt.
»Peter«, sagte er. »Ich bin Jordan McAfee, und ich bin Anwalt. Deine Eltern haben mich beauftragt, dich zu vertreten.«
Er wartete auf eine Antwort. »Setz dich«, sagte er, aber der Junge blieb stehen. »Oder nicht«, fügte Jordan hinzu. Er gab sich sachlich und blickte zu Peter hoch. »Du wirst morgen dem Haftrichter vorgeführt. Du kommst nicht gegen Kaution frei. Wir haben morgen früh noch Gelegenheit, die Anklagepunkte durchzugehen, bevor du zum Gericht gebracht wirst.« Er ließ Peter einen Augenblick Zeit, diese Informationen zu verdauen. »Ab jetzt bist du nicht mehr allein. Du hast mich.«
War das Einbildung gewesen, oder hatte Jordan irgendwas in Peters Augen aufblitzen sehen, als er das gesagt hatte? Nun, es war jedenfalls im Nu wieder verschwunden. Peter blickte ausdruckslos zu Boden.
»Gut«, sagte Jordan und erhob sich. »Irgendwelche Fragen?«
Keine Reaktion, wie er erwartet hatte. Herrje, Jordan hätte genauso gut einen Toten anquatschen können.
Vielleicht bist du auf deine Weise selbst ein Opfer, dachte er, und die Stimme in seinem Kopf klang der seiner Frau bedenklich ähnlich.
»Also dann, bis morgen.« Er klopfte an die Tür, um den Aufseher zu rufen, der Peter zurück in seine Zelle bringen würde, als der Junge plötzlich doch den Mund aufmachte.
»Wie viele hab ich erwischt?«
Jordan zögerte, die Hand am Türknauf. Er drehte sich nicht zu seinem Mandanten um. »Bis morgen«, wiederholte er.
Dr. Ervin Peabody wohnte auf der anderen Seite des Flusses in Norwich, Vermont, und hatte eine halbe Stelle am psychologi-schen Institut des Sterling College. Vor sechs Jahren hatte er als einer von sieben Koautoren einen Aufsatz über Gewalt an Schulen veröffentlicht - eine akademische Übung, an die er sich kaum noch erinnern konnte. Und dennoch hatte ihn das NBC-Studio in Burlington angerufen. Wir suchen jemanden, mit dem wir aus psychologischer Sicht über den Amoklauf sprechen können, hatte die Produktionsleiterin gesagt, und Ervin hatte erwidert, Sie haben ihn gefunden.
»Warnsignale«, sagte er jetzt auf die Frage des Moderators. »Nun, diese Jungen sondern sich von anderen ab. Sie sind in der Regel Einzelgänger. Sie reden davon, sich selbst oder anderen Schaden zuzufügen. Sie versagen in der Schule oder werden häufig bestraft. Sie haben niemanden, der ihnen das Gefühl geben könnte, wichtig zu sein.«
Ervin war sich darüber im Klaren, dass es dem Sender gar nicht um seine Expertenmeinung ging. Nein, er sollte Angst nehmen: Die Menschen in Sterling - in aller Welt - wollten hören, dass Jugendliche wie Peter Houghton erkennbar waren,
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