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als wäre das Potenzial, sich über Nacht in einen Mörder zu verwandeln, ein sichtbares Muttermal. »Dann gibt es also ein deutliches Charakterprofil bei jugendlichen Amokläufern«, hakte der Moderator nach.
Ervin blickte in die Kamera. Er kannte die Wahrheit - wenn man sagte, diese Jugendlichen trugen schwarze Klamotten oder hörten seltsame Musik oder waren wütend, dann traf das auf fast alle männlichen Jugendlichen in irgendeiner Phase ihrer Adoleszenz zu. Er wusste, wenn ein ernsthaft gestörter Mensch fest entschlossen war, Schaden anzurichten, dann würde ihm das wahrscheinlich gelingen. Aber er wusste auch, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren und dass er für eine volle Stelle am Sterling College im Gespräch war. Ein bisschen Prestige - ein Anstrich von Sachverstand - konnte da nicht schaden. »Ja, das kann man durchaus sagen«, erwiderte er.
Jeden Abend, bevor er ins Bett ging, räumte Lewis die letzten Gläser weg, schloss die Haustür ab und machte überall das Licht aus. Lacy hatte sich - wenn sie nicht zu einer Geburt musste -meistens bereits hingelegt und las noch etwas, und wenn Lewis nach oben kam, schaute er noch mal bei seinem Sohn rein und sagte, er solle den Computer ausschalten und schlafen gehen.
Als er heute Abend vor Peters Zimmer stand und das Durcheinander sah, das die Polizei hinterlassen hatte, überlegte er kurz, ob er aufräumen sollte, schloss dann aber leise die Tür.
Lacy war weder im Schlafzimmer noch im Bad, um sich die Zähne zu putzen. Er zögerte und lauschte. Aus dem Zimmer unter ihm drangen Stimmen - es klang wie heimliches Getuschel.
Er ging nach unten, den Stimmen nach. Mit wem konnte Lacy kurz vor Mitternacht reden?
Der Bildschirm des Fernsehers leuchtete grün und unheimlich in dem dunklen Arbeitszimmer. Lewis hatte ganz vergessen, dass hier überhaupt ein Apparat stand, weil er so selten benutzt wurde. Er sah das CNN-Logo und den vertrauten Ticker mit aktuellen Meldungen am unteren Rand.
Lacy kniete auf dem Teppichboden, das Gesicht zum Moderator erhoben. »Noch ist unklar, wie der Mann an die Schusswaffen gelangte und um welche Waffen genau es sich handelt...«
»Lacy«, sagte er und schluckte. »Lacy, komm ins Bett.«
Lacy rührte sich nicht, gab in keiner Weise zu erkennen, ob sie ihn überhaupt gehört hatte. Lewis berührte sie mit einer Hand sanft an der Schulter, als er an ihr vorüberging, um den Fernseher auszuschalten. »In vorläufigen Berichten ist die Rede von zwei Pistolen ...«, sagte der Moderator, ehe das Bild erlosch. Lacy blickte Lewis an. Ihre Augen erinnerten ihn an den Himmel, wie man ihn aus einem Flugzeug sieht: ein grenzenloses Grau, das überall und nirgends zugleich sein könnte. »Die reden immer von einem Mann«, sagte sie, »dabei ist er doch noch ein Junge.«
Josie hatte im Krankenhaus die Ohren gespitzt und unauffällig den Krankenschwestern, den Polizisten auf dem Flur und den Ärzten, die oft noch kurz über den Zustand eines anderen Patienten sprachen, wenn sie ihr Zimmer betraten, zugehört.
Josie wusste von etlichen Verletzten: Drew Girard, der Matt und Josie völlig aufgelöst erzählt hatte, dass Peter Houghton auf Mitschüler schoss; Emma, die mit Josie am Tisch in der Cafeteria gesessen hatte; Trey MacKenzie aus der Footballmannschaft, der für die tollen Partys bei sich zu Hause bekannt war; John Eberhard, der an dem Vormittag von Josies Pommes mitgegessen hatte; Min Horuka, ein Austauschschüler aus Tokio, der sich letztes Jahr mit anderen hinter der Schule betrunken und durch ein offenes Fenster ins Auto des Schulleiters gepinkelt hatte; Natalie Zlenko, die vor Josie in der Schlange an der Essenstheke gestanden hatte; Coach Spears und Miss Ritolli, bei denen Josie früher Unterricht hatte. Brady Pryce und Haley Weaver, das Traumpärchen aus der Abschlussklasse.
Andere kannte Josie nur mit Namen - Michael Beach, Steve Babourias, Angela Phlug, Austin Prokiov, Alyssa Carr, Jared Weiner, Richard Hicks, Jada Knight, Zoe Patterson - aber jetzt war sie für immer mit ihnen verbunden.
Die Namen der Toten herauszufinden war schwieriger. Über sie wurde allenfalls leise getuschelt, als wäre ihr Schicksal ansteckend für die übrigen unglücklichen Seelen, die im Krankenhaus lagen. Josie hatte munkeln gehört, dass Mr. McCabe getötet worden war und Topher McPhee, der an der Schule mit Haschisch dealte. Um mehr zu erfahren, nutzte sie jede Minute, um die laufende Berichterstattung im Fernsehen zu verfolgen, aber ihre
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