19 Minuten
ihr verabschiedete.
»Und komm ja nicht wieder, hast du gehört?«, rief eine andere lächelnd.
Josie bewegte sich langsam auf den Fahrstuhl zu, der jedes Mal ein Stück weiter wegzurücken schien, wenn sie aufblickte. Auf dem Klemmbrett neben der offenen Tür eines Krankenzimmers, an dem sie vorbeikam, stand HALEY WEAVER.
Haley und ihr Freund Brady galten als das Glamourpaar an der Sterling High, und Josie hatte sich ernsthaft Chancen ausgerechnet, dass sie und Matt deren Nachfolge antreten könnten, wenn die beiden erst ihren Abschluss gemacht hatten. Brady hatte ein verwegenes Lächeln und einen Adoniskörper. Haley, die Schönste an der Schule, hatte weißblondes Haar und klare, blaue Augen, wie eine Märchenfee. Brady und Haley zusammen waren der Stoff, aus dem Träume gemacht sind. Wenngleich Josie wusste, dass an vielen der romantischen Geschichten um die beiden gar nicht viel dran war. So war etwa Haleys legendäres Tat-too mit Bradys Initialen nur aufgeklebt.
»Josie?«, flüsterte Haley plötzlich aus dem Innern des Zimmers. »Bist du das?«
Josie spürte, wie die Hand ihrer Mutter sie zurückhalten wollte. Doch dann traten Haleys Eltern, die den Blick auf das Bett versperrten, beiseite.
Haleys rechte Gesichtshälfte verschwand unter einem Verband; ihr Haar war bis auf die Kopfhaut geschoren. Ihre Nase war gebrochen und das sichtbare Auge blutunterlaufen. Josies Mutter sog leise die Luft ein.
Sie trat ein und zwang sich zu einem Lächeln.
»Josie«, sagte Haley. »Er hat sie erschossen. Courtney und Maddie. Und dann hat er auf mich gezielt, aber Brady hat sich schützend vor mich gestellt.« Eine Träne lief ihr über die nicht bandagierte Wange. »Er wollte wirklich sein Leben für mich geben.«
Josie fing an zu zittern. Sie hätte Haley gern zig Fragen gestellt, aber ihr klapperten so heftig die Zähne, dass sie kein Wort herausbekam. Haley fasste ihre Hand, und Josie erschrak. Sie wollte sich losreißen. Sie wollte so tun, als hätte sie Haley Weaver nie so gesehen.
»Wenn ich dich was frage«, sagte Haley, »bist du dann ehrlich zu mir?«
Josie nickte.
»Mein Gesicht«, flüsterte sie. »Es ist hin, nicht?«
Josie blickte Haley in das sichtbare blaue Auge. »Nein«, sagte sie. »Das wird wieder.«
Sie wussten beide, dass Josie nicht die Wahrheit sagte.
Josie verabschiedete sich rasch, hakte sich bei ihrer Mutter ein und eilte so schnell sie konnte in Richtung Aufzug, obwohl sich jeder Schritt wie ein Donnerschlag hinter ihren Augen anfühlte.
Als Patrick am nächsten Morgen wieder zur Sterling High kam, hatten die Kollegen von der Spurensicherung die Flure der Schule in ein riesiges Spinnennetz verwandelt. Uberall dort, wo Opfer gefunden worden waren, hatten sie Kordeln gespannt -ein Geflecht von Linien, die von einer Stelle ausgingen, wo Peter Houghton ein paar Schüsse abgefeuert hatte, ehe er weiterzog. Die Kordellinien überschnitten sich vielfach: ein Netz der Panik, ein Diagramm des Chaos.
Patrick blieb einen Augenblick mitten in dem Treiben stehen und sah zu, wie die Techniker die Kordeln quer über die Flure, zwischen Spindreihen hindurch und bis hinein in Klassenräume zogen. Er stellte sich vor, wie es gewesen sein mochte, vor den Schüssen zu fliehen, die drängende Flut von anderen in Panik Flüchtenden im Rücken zu spüren, zu wissen, dass niemand schneller als eine Kugel war. Zu spät zu begreifen, dass du in der Falle saßest.
Patrick suchte sich vorsichtig einen Weg durch das Gespinst. Er würde ihre Ergebnisse brauchen, um die Aussagen der Zeugen zu untermauern. Aller 1026 Zeugen.
Die Morgennachrichten aller drei Lokalsender konzentrierten sich darauf, dass Peter Houghton am Vormittag dem Haftrichter vorgeführt werden würde. Alex stand vor dem Fernseher in ihrem Schlafzimmer, in der Hand eine Tasse Kaffee, und blickte auf ihren ehemaligen Arbeitsplatz, das Bezirksgericht, vor dem die eifrige Reporterschar sich versammelt hatte.
Josie schlief in ihrem Zimmer den dunklen, traumlosen Schlaf der Sedierten. Alex gestand sich ein, dass sie froh war über die Zeit, die sie für sich allein hatte. Sie hätte nie gedacht, dass sie, die sie es meisterhaft beherrschte, ein öffentliches Gesicht aufzusetzen, es emotional so anstrengend finden würde, vor ihrer Tochter die Fassung zu wahren.
Am liebsten hätte sie sich betrunken. Am liebsten hätte sie geheult wie ein Schlosshund, den Kopf in den Händen, vor lauter Freude über ihr Glück: Ihre Tochter war nur zwei Türen
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