19 Minuten
entfernt von ihr. Später würden sie zusammen frühstücken. Wie viele Eltern in dieser Stadt gab es heute Morgen, die das nie wieder erleben würden?
Alex schaltete den Fernseher aus. Sie wollte ihre Objektivität als zukünftige Richterin in dem Fall nicht gefährden, indem sie sich anhörte, was die Medien zu sagen hatten.
Sie wusste, dass es kritische Stimmen geben würde, Forderungen, dass Alex von dem Fall abgezogen wurde, weil ihre Tochter auf die Sterling Highschool ging. Und sie hatte die Sachlage ja bereits durchdacht: Wenn Josie angeschossen worden wäre, hätte sie den Fall erst gar nicht angenommen. Auch nicht, wenn Josie noch mit Peter Houghton befreundet gewesen wäre. Doch nach Lage der Dinge war Alex' Urteilsfähigkeit nicht stärker gefährdet als die anderer Richter, die in der Gegend wohnten oder ein Kind kannten, das die Schule besuchte, oder selbst eine Tochter oder einen Sohn im Teenageralter hatten. Es passierte Richtern nicht selten, dass irgendwer, den sie kannten, in ihrem Gerichtssaal auftauchte. Als Bezirksrichterin hatte Alex immer mal wieder Angeklagte vor sich, mit denen sie auf persönlicher Ebene zu tun hatte: ihr Postbote, der mit Hasch im Auto erwischt worden war; ein Streit zwischen ihrem Automechaniker und seiner Frau. Solange Alex nicht persönlich in den Streit verwickelt war, bestanden rechtlich keinerlei Einwände, dass sie in der Verhandlung den Vorsitz führte. Das Schulmassaker fiel ihrer Ansicht nach in dieselbe Kategorie, nur dass es eine ganz andere Größenordnung hatte.
Alex trank einen Schluck Kaffee und schlich zu Josies Zimmer. Doch die Tür stand weit offen, und ihre Tochter war nicht drin.
»Josie?«, rief Alex bestürzt. »Jo, wo bist du?«
»Hier unten«, erwiderte Josie, und sogleich löste sich der Knoten wieder, der sich tief in ihr zusammengezogen hatte. Als sie nach unten kam, saß Josie am Küchentisch.
Sie trug Rock und Strumpfhose und einen schwarzen Pullover. Ihr Haar war noch feucht vom Duschen, und sie hatte das Pflaster an der Stirn mit Haarsträhnen verdeckt. Sie blickte zu Alex hoch. »Kann ich so gehen?«
»Wohin?«, fragte Alex entgeistert.
»Die Vorführung vor dem Haftrichter«, sagte Josie.
»Schätzchen, es kommt gar nicht infrage, dass du dahin gehst.«
»Ich muss.«
»Du gehst da nicht hin«, sagte Alex kategorisch.
Josie sah aus, als würde sie jeden Moment die Fassung verlieren. »Wieso denn nicht?«
Alex hatte keine logische Erklärung, sie hörte nur auf ihr Bauchgefühl: Sie wollte einfach nicht, dass ihre Tochter wieder so massiv mit dem Geschehen konfrontiert wurde. »Weil ich es sage«, erwiderte sie schließlich.
»Das ist keine Antwort«, entgegnete Josie.
»Die Medien werden sich auf dich stürzen, wenn du im Gericht auftauchst«, sagte Alex. »Und was da heute in der Verhandlung passiert, kann ich dir auch so sagen. Und ich möchte dich im Augenblick noch nicht aus den Augen lassen.«
»Dann komm mit.«
Alex schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht, Josie«, sagte sie sanft. »Ich werde den Fall übernehmen.« Sie sah, wie Josie bleich wurde, und begriff, dass ihre Tochter diese Möglichkeit gar nicht in Erwägung gezogen hatte. Der Prozess würde die Mauer zwischen ihnen noch dicker machen. Als Richterin würde sie über Informationen verfügen, die sie ihrer Tochter nicht mitteilen konnte. Während Josie verzweifelt versuchte, die Tragödie hinter sich zu lassen, würde Alex knietief darin stecken. Wieso hatte sie kaum darüber nachgedacht, welche Auswirkungen es für ihre Tochter haben könnte, wenn sie in dem Prozess den Vorsitz übernahm? Josie interessierte es im Augenblick nicht im Geringsten, ob ihre Mutter eine gerechte Richterin war. Sie wollte -brauchte- nichts anderes als eine Mutter, und Muttersein war Alex, anders als die Ausübung ihres Berufes, nie leicht gefallen.
Plötzlich musste sie an Lacy Houghton denken - eine Mutter, die im Augenblick eine ganz andere Hölle durchmachte die einfach Josies Hand genommen und bei ihr gesessen hätte, und es hätte ganz natürlich und ungezwungen gewirkt. Alex dagegen fühlte sich hilflos. »Ich mach dir einen Vorschlag: Du gehst nach oben und ziehst dich um, und dann backen wir zusammen Pfannkuchen. Das hat dir doch immer Spaß gemacht.«
»Ja, als ich fünf war ...«
»Dann eben Schokoplätzchen.«
Josie blinzelte Alex geringschätzig an.
Alex fand selbst, dass sie sich albern anhörte, aber sie wollte Josie unbedingt beweisen, dass sie sich um sie
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