Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
19 Minuten

19 Minuten

Titel: 19 Minuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
Jordan zögerte effektvoll und richtete dann den Blick direkt auf die Menge vor sich. »Ich bitte Sie zu bedenken, dass nicht immer alles so ist, wie es scheint.«
    Diana grinste verächtlich. Die Reporter und die Menschen, die Jordans einstudierte Rede draußen vor den Bildschirmen verfolgten, würden aus seinem letzten Satz schließen, dass er noch irgendeine überraschende Wahrheit in petto hatte, irgendeinen Beweis, dass sein Mandant doch kein Massenmörder war. Doch Diana wusste es besser. Sie verstand die Juristensprache, sie sprach sie selbst fließend. Eine so geheimnisvolle Phrase aus dem Mund eines Anwalts bedeutete, dass er rein gar nichts in der Hand hatte, um seinem Mandanten zu helfen.
    Josie brauchte nicht mal einen Vormittag, um die Zauberformel herauszufinden: Wenn sie Ruhe vor ihrer Mutter haben wollte, die sie unablässig mit Adleraugen beobachtete, brauchte sie nur zu sagen, sie wolle schlafen. Prompt zog ihre Mutter sich zurück, ohne zu merken, dass sich ihr ganzes Gesicht augenblicklich entspannte.
    Josie saß bei heruntergelassenen Jalousien in ihrem Zimmer, die Hände im Schoß gefaltet. Draußen war helllichter Tag, aber davon war hier nichts zu merken.
    Josie tastete im Dunkeln unter dem Bett nach dem Plastikbeutel mit ihrem Schlaftablettenvorrat. Sie war nicht besser als all die anderen blöden Leute auf der Welt, die glaubten, es würde schon alles so werden, wie sie wollten, wenn sie mit aller Macht so taten als ob. Sie hatte geglaubt, der Tod könne eine Antwort sein, weil sie zu unreif gewesen war, um zu erkennen, dass er die größte Frage überhaupt war.
    Gestern hatte sie noch nicht gewusst, was für Muster Blut machte, wenn es auf eine weiße Wand spritzte. Sie hatte nicht gewusst, dass das Leben erst die Lunge eines Menschen verlässt und zuletzt die Augen. Sie hatte sich Selbstmord als ein letztes Statement vorgestellt, als eine Art Ihr-könnt-mich-alle-mal, an diejenigen gerichtet, die nicht verstanden hatten, wie schwer es für sie war, die Josie zu sein, die sie haben wollten. Sie hatte irgendwie gedacht, wenn sie sich umbrachte, würde sie anschließend beobachten können, wie alle anderen reagierten. Erst gestern hatte sie begriffen, dass dem nicht so war. Tot war tot. Wenn du starbst, konntest du nicht noch einmal zurückkommen und sehen, was du verpasstest. Du konntest dich auch nicht mehr entschuldigen. Du bekamst keine zweite Chance.
    Sie riss den Plastikbeutel auf, schüttelte sich fünf Pillen auf die Hand und legte sie auf ihre Zunge. Sie ging ins Bad zum Waschbecken, drehte den Hahn auf und ließ sich Wasser in den Mund laufen.
    Schluck, befahl sie sich.
    Doch stattdessen fiel Josie vor der Kloschüssel auf die Knie und spuckte die Pillen aus. Sie schüttete den ganzen Inhalt des
    Beutels, den sie noch in der Hand hielt, hinterher und betätigte die Spülung, ehe sie es sich anders überlegen konnte.
    Ihre Mutter eilte nach oben, als sie das Schluchzen hörte. Es war durch den Fliesenboden nach unten gedrungen, ja, es hatte sich so angehört, als würde es sich im ganzen Haus einnisten. Josies Mutter kam hereingestürmt und sank im Bad neben ihrer Tochter auf den Boden. »Was kann ich tun, Kleines?«, flüsterte sie und fuhr hilflos mit den Händen an Josies Schultern auf und ab.
    Yvette Harvey saß auf einer Couch und hielt ein Foto ihrer Tochter aus der achten Klasse in der Hand, aufgenommen zwei Jahre, sechs Monate und vier Tage bevor sie starb. Kaitlyns Haar war ungewöhnlich lang, aber ihr typisches, leicht schiefes Lächeln und ihr freundliches, flächiges Gesicht waren unverkennbar.
    Was wäre gewesen, wenn sie Kaitlyn mit ihrem Downsyndrom nicht auf diese integrative Schule geschickt hätte, sondern auf eine Sonderschule für Behinderte? Waren die Kinder dort nicht so wütend, war die Wahrscheinlichkeit geringer, dass eines von ihnen zum Killer mutierte?
    Yvette hatte gar nicht vorgehabt, ihren Schmerz im Fernsehen zu zeigen - ihr Mann war so strikt dagegen, dass er sich geweigert hatte, im Haus zu sein, als die Frau zum Vorgespräch kam -, aber Yvette war entschlossen. Sie hatte die ganze Zeit die Nachrichten verfolgt. Und jetzt musste sie etwas loswerden.
    »Kaitlyn hatte ein schönes Lächeln«, sagte die Fernsehfrau sanft.
    »Ja, das hat sie«, erwiderte Yvette, dann schüttelte sie den Kopf. »Hatte.«
    »Kannte sie Peter Houghton?«
    »Nein. Höchstens vom Sehen. Sie waren nicht in derselben Klasse.« Sie drückte den Daumen so fest gegen den Rand des

Weitere Kostenlose Bücher