19 Minuten
bei Mrs. Edgar eine Stunde hatten, und manchmal konnten wir von nebenan Geräusche hören, Stühlerücken oder Stimmen«, sagte sie. »Aber diesmal haben wir Schreie gehört, und Mrs. Edgar hat sofort ihren Tisch gegen die Tür geschoben und gesagt, wir sollten uns auf der anderen Seite der Klasse, bei den Fenstern, auf den Boden setzen. Die Schüsse haben sich angehört wie Popcorn. Und dann ...« Sie stockte und wischte sich die Augen. »Und dann war's auf einmal still.«
Diana Leven hatte nicht damit gerechnet, dass der Täter so jung aussah. Peter Houghton trug Hand- und Fußfesseln, einen orangeroten Overall und eine Schutzweste, aber er hatte das Milchgesicht eines Jungen, der die Pubertät noch nicht ganz hinter sich hat, und sie wäre jede Wette eingegangen, dass er sich noch nicht rasieren musste. Auch die Brille missfiel ihr. Die Verteidigung würde mit Sicherheit versuchen, daraus Kapital zu schlagen, und behaupten, er sei kurzsichtig und daher könne von gezielten Schüssen wohl kaum die Rede sein.
Die vier Fernsehkameras, die das Bezirksgericht zugelassen hatte - ABC, CBS, NBC und CNN - schwenkten gleich auf den Angeklagten, als er hereingeführt wurde. Schlagartig wurde es mucksmäuschenstill im Saal. Peter blickte sofort in die Kameras. Diana sah, dass seine Augen sich gar nicht so sehr von den Kameras unterschieden: Sie waren hinter den Gläsern dunkel, blind, leer.
Jordan McAfee - ein Anwalt, den Diana persönlich nicht besonders leiden konnte, dem sie aber lassen musste, dass er verdammt gut in seinem Beruf war - beugte sich zu seinem Mandanten, sobald Peter am Tisch der Verteidigung war. Der Gerichtsdiener stand auf. »Bitte erheben Sie sich«, bellte er, »den Vorsitz hat der Ehrenwerte Richter Charles Albert.«
Richter Albert kam mit wehender Robe in den Saal gerauscht. »Bitten nehmen Sie Platz«, sagte er. Dann wandte er sich an den Angeklagten: »Peter Houghton«, setzte er an.
Sogleich stand Jordan McAfee auf. »Euer Ehren, wir verzichten auf die Verlesung der Anklagepunkte. Wir plädieren in allen Punkten auf nicht schuldig.«
Das war für Diana keine Überraschung - wieso sollte Jordan wollen, dass alle Welt hört, wie seinem Mandanten zehn Mordfälle zur Last gelegt werden? Der Richter wandte sich an sie. »Ms. Leven, das Gesetz verlangt, dass ein Angeklagter, der sich wegen Mordes - noch dazu in mehreren Fällen - verantworten muss, nicht gegen Kaution freigelassen werden kann, sondern bis zur Verhandlung in Untersuchungshaft zu verbleiben hat. Ich gehe davon aus, dass Sie keine Einwände haben.«
Diana unterdrückte ein Lächeln. Richter Albert, der alte Schlawiner, hatte es geschafft, die Anklagepunkte doch noch zu erwähnen. »Das ist richtig, Euer Ehren.«
Der Richter nickte. »Nun denn, Mr. Houghton. Sie werden zurück in die Untersuchungshaft geschickt.«
Die ganze Prozedur hatte keine fünf Minuten gedauert, zum Leidwesen der Öffentlichkeit. Die Leute wollten Blut sehen, sie wollten Rache. Diana beobachtete, wie Peter Houghton, der von zwei Deputy Sheriffs abgeführt wurde, sich noch ein letztes Mal zu seinem Anwalt umdrehte, mit einer Frage auf den Lippen, die er nicht aussprach. Dann schloss sich die Tür hinter ihm, Diana nahm ihre Aktentasche und ging aus dem Saal, um mit den Medien zu reden.
Draußen wartete ein Wald aus Mikrofonen auf sie. »Peter Houghton wird angeklagt wegen Mordes in zehn Fällen und versuchten Mordes in neunzehn Fällen sowie wegen des illegalen Besitzes von Sprengstoff und Schusswaffen. Aus juristischen Gründen können wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nichts zu den vorliegenden Beweisen sagen, aber die Öffentlichkeit kann sicher sein, dass der Fall für uns höchste Priorität hat, dass wir zusammen mit unseren Ermittlern alles tun, damit diese unsagbare Tragödie nicht ungesühnt bleibt.« Sie öffnete den Mund, um weiter zu sprechen, hörte dann aber ein Stück entfernt eine andere Stimme, die nach und nach die Reporter von ihr weglockte.
Jordan McAfee stand ruhig und traurig da, die Hände in den Hosentaschen, und blickte Diana unverwandt an. »Ich trauere mit den Menschen dieser Stadt um die Opfer, und ich werde meinen Mandanten mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln vertreten. Peter Houghton ist ein siebzehn Jahre alter Junge. Er ist völlig verängstigt. Und ich bitte Sie alle inständig, haben Sie Respekt vor seinen Eltern und beherzigen Sie, dass für die Klärung der Tragödie allein das Gericht zuständig ist.«
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