19 Minuten
beschissen fühlt und sie sich toll vorkommen.«
»Was hast du gemacht, damit sie dich in Ruhe lassen?«
Peter schnaubte. »Was ich gemacht habe? Falls Sie es noch nicht gemerkt haben, Sterling ist nicht gerade eine Metropole. Hier kennt jeder jeden. In der Highschool triffst du dieselben wieder, mit denen du schon im Sandkasten gespielt hast. Da kann keiner was machen.«
»Hättest du ihnen nicht aus dem Weg gehen können?«
»Und wie hätte das gehen sollen? Ich musste doch zur Schule«, sagte Peter. »Sie glauben ja nicht, wie klein so eine Schule wird, wenn man acht Stunden am Tag da sein muss.«
»Haben sie dir auch außerhalb der Schule aufgelauert?«
»Klar, sobald ich allein unterwegs war«, erwiderte er.
»Irgendwelche verbalen Belästigungen - Anrufe, Briefe, Drohungen?«, fragte Jordan.
»Ubers Internet«, sagte Peter. »Instant Messages, darin haben sie mich einen Loser genannt, so was eben. Und sie haben eine E-Mail von mir an die ganze Schule geschickt ... als Witz ...« Er blickte weg.
»Warum?«
»Weil ...« Er schüttelte den Kopf. »Verdammt, vergessen Sie's.«
Jordan machte sich eine Notiz. »Hast du mal jemandem erzählt, was los war? Deinen Eltern? Lehrern?«
»Das interessiert doch kein Schwein«, sagte Peter. »Die sagen bloß, da musst du drüber stehen. Oder sie sagen, dass sie drauf achten werden, dass so was nicht noch mal passiert, und das war's dann auch schon.« Er trat ans Fenster und drückte die Hände gegen die Scheibe. »Es heißt immer, es ist in Ordnung, anders zu sein, unsere Gesellschaft ist doch angeblich ein Schmelztiegel, und was bedeutet das verdammt noch mal? Wenn es ein Schmelztiegel ist, dann heißt das doch wohl, alle sollen gleich gemacht werden, oder?«
Jordan musste an die Zeit denken, als sein Sohn Thomas, das einzig positive an Jordans katastrophaler erster Ehe, auf die Highschool kam. Er hatte sich jahrelang schwergetan, und erst nach etlichen Häutungen hatte er einen Freundeskreis gefunden, in dem er der sein durfte, der er sein wollte, und der Rest von Thomas' Schullaufbahn verlief einigermaßen friedlich. Aber was, wenn er diesen Freundeskreis nicht gefunden hätte? Hätte er seinen Abschluss gemacht? Würde er heute in Yale studieren?
Könnte er dann heute darüber nachdenken, ob er Kunsthistoriker oder lieber Performancekünstler werden wollte? Was, wenn er weiterhin eine Schicht nach der anderen abgestreift hätte, bis im Innern nichts mehr übrig gewesen wäre?
Als könnte er Jordans Gedanken lesen, starrte Peter ihn plötzlich an. »Haben Sie Kinder?«
Jordan sprach mit Mandanten grundsätzlich nicht über sein Privatleben. Die wenigen Male, die er gegen diese ungeschriebene Regel verstoßen hatte, hätten für ihn persönlich und beruflich beinahe verheerende Folgen gehabt. Aber er blickte Peter an und sagte: »Zwei. Einen sechs Monate alten Sohn und einen, der in Yale studiert.«
»Dann wissen Sie ja Bescheid«, sagte Peter. »Alle wollen, dass ihre Kinder später mal in Harvard studieren oder eine Football-Karriere machen. Keiner guckt sein Baby an und denkt: Ich hoffe, er betet später jeden Tag in der Schule, dass keiner auf ihn aufmerksam wird. Aber wissen Sie was? Es gibt Kinder, die das jeden Tag tun.«
Jordan drehte seinen Stift zwischen den Fingern. Es gab eine haarfeine Grenze zwischen dem Einzigartigen und dem Sonderbaren, zwischen dem, was aus Kindern gut integrierte oder labile Menschen machte. Bestand bei allen Jugendlichen die Möglichkeit, dass sie auf der einen oder der anderen Seite des Drahtseils herunterfielen, und ließ sich ein einzelner Augenblick benennen, der den Ausschlag gegeben hatte?
Wenn du nicht dazugehörst, wirst du zum Übermenschen. Du spürst alle Blicke auf dir. Du kannst aus einer Meile Entfernung hören, wie über dich getuschelt wird. Du kannst verschwinden, auch wenn es so aussieht, als wärst du noch da. Du kannst schreien, und niemand hört einen Laut.
Du wirst der Mutant, der in ein Säurefass gefallen ist, der Narr, der seine Maske nicht abnehmen kann, der bionische Mensch, dem alle Gliedmaßen fehlen, aber nicht das verdammte Herz.
Du bist das Wesen, das irgendwann mal normal war, aber das ist so lange her, dass du nicht mal mehr weißt, wie das war.
Sechs Jahre zuvor
Am ersten Tag der sechsten Klasse überraschte seine Mutter Peter beim Frühstück mit einem Geschenk. »Das hast du dir doch so gewünscht«, sagte sie, während er es auspackte.
Drinnen war ein Ringbuch mit einem
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