19 Minuten
mit seinen Eltern besucht hatte, war nichts mehr wiederzuerkennen. Sie waren auf dem Empire State Building gewesen und hatten vorgehabt, im Windows of the World schön essen zu gehen, doch dann war Joey von zu viel Popcorn schlecht geworden, und sie waren zurück ins Hotel gefahren.
Mrs. Rasmussin, ihre Mathelehrerin, war schon nach Hause gefahren. Ihr Bruder war Banker im World Trade Center. Gewesen.
Josie saß neben Peter. Obwohl zwischen ihren Stühlen ein paar Zentimeter Abstand waren, spürte er, wie sie zitterte. »Peter«, flüsterte sie entsetzt, »da springen Leute.«
Auch mit Brille konnte er nicht so gut sehen wie sie, aber als er die Augen zusammenkniff, wusste er, dass Josie recht hatte. Bei dem Anblick schnürte sich ihm die Brust zu, als wären seine Rippen auf einmal eine Nummer zu klein. Wer machte denn so was?
Er glaubte die Antwort zu kennen: Einer, der keinen anderen Ausweg sah.
»Meinst du, die könnten es auch auf uns abgesehen haben?«, flüsterte Josie.
Peter blickte sie hilflos an. Er hätte gern etwas gesagt, damit Josie sich besser fühlte, aber sein einziger Gedanke war, dass die Welt nicht mehr der Ort war, für den er sie gehalten hatte.
Er blickte wieder auf den Bildschirm, um Josie nicht antworten zu müssen. Immer mehr Menschen sprangen aus den Fenstern im Nordturm. Dann setzte ein gewaltiges Tosen ein, als würde die Erde sich wie ein Schlund öffnen. Als das Gebäude einstürzte, stieß Peter die Luft aus, die er angehalten hatte -erleichtert, denn jetzt konnte er gar nichts mehr sehen.
Die Telefone im Schulsekretariat waren überlastet, und so teilten sich die Eltern in zwei Kategorien: solche, die ihre Kinder nicht in Angst versetzen wollten, indem sie in der Schule aufkreuzten, und solche, die diese Tragödie zusammen mit ihren Kindern durchstehen wollten.
Lacy Houghton und Alex Cormier zählten beide zur zweiten Kategorie, und beide trafen gleichzeitig an der Schule ein. Sie parkten nebeneinander, und erst als sie ausstiegen, erkannten sie sich. Seit der Geschichte mit den Waffen im Keller der Hough-tons hatten sie sich nicht mehr gesehen.
Nebeneinander eilten sie ins Sekretariat, von wo sie in den Medienraum geschickt wurden. »Ich fass es nicht, dass sie die Schüler das gucken lassen«, sagte Lacy.
»Sie sind alt genug, um zu begreifen, was da los ist«, sagte Alex.
Lacy schüttelte den Kopf. »Ich bin ja nicht mal alt genug, um zu begreifen, was da los ist.«
Im ganzen Medienraum hatten sich die Schüler ausgebreitet -auf Tischen, Stühlen, ausgestreckt auf dem Fußboden. Alex hatte Josie noch gar nicht entdeckt, da flog ihr ihre Tochter bereits förmlich über die anderen hinweg in die Arme. »Mommy«, schluchzte sie. »Ist es vorbei?«
Alex wusste nicht, was sie sagen sollte. Als Mutter sollte sie auf alles eine Antwort haben, aber dem war nicht so. Sie sollte im-
Stande sein, ihre Tochter zu behüten, aber auch das konnte sie nicht versprechen. Sie sollte sich tapfer geben und Josie versichern, dass alles gut werden würde, aber das konnte sie nicht. Auf der Fahrt zur Schule war ihr bewusst geworden, wie zerbrechlich im Grunde alles war, selbst die Straße unter ihren Rädern. Als sie an einem Stausee vorbeikam, dachte sie, wie leicht sich das Trinkwasser vergiften ließ, und fragte sich, wo eigentlich das nächste Atomkraftwerk stand.
Und dennoch war sie seit Jahren als Richterin so, wie es von ihr erwartet wurde - ruhig und gefasst, jemand, der Entscheidungen treffen konnte, ohne hysterisch zu werden. Diese Maske würde sie doch wohl auch für ihre Tochter aufsetzen können. Sie war ja in erster Linie Mutter, nicht Richterin, wenn sie diese Erkenntnis auch immer wieder aus den Augen verloren hatte.
»Keine Sorge«, sagte Alex ruhig. »Es ist vorbei.« Sie konnte nicht wissen, dass, noch während sie das sagte, ein viertes Passagierflugzeug auf ein Feld in Pennsylvania stürzte. Ihr war auch nicht klar, dass die Kraft, mit der sie Josie an sich drückte, im Widerspruch zu ihren Worten stand.
Über Josies Schulter hinweg nickte Alex Lacy Houghton zu, die mit ihren zwei Söhnen den Raum verließ. Alex erschrak richtig darüber, wie groß Peter geworden war, fast so groß wie ein Mann.
In den folgenden Wochen legte Alex ihre Termine möglichst so, dass sie zu Hause sein konnte, wenn Josie von der Schule kam. Sie ließ Akten im Büro, statt sie übers Wochenende mit nach Hause zu nehmen. Abends beim Essen plauderten sie nicht nur, sondern führten
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