19 Minuten
Josie klar, dass er das auch nicht mehr musste.
Sie schluchzte inzwischen so heftig, dass sie sich die Faust auf den Mund pressen musste, um keinen Lärm zu machen. Sie hatte nur Augen für Matt auf dem Bildschirm. Er spreizte die Finger auf ihrem nackten Bauch, strich über den Rand ihres Bikinioberteils. Sie sah, wie sie ihn wegschob, rot wurde. »Nicht hier«, sagte sie mit einer Stimme, die sich für sie fremd anhörte.
»Dann lass uns woanders hingehen«, sagte Matt.
Josie schob sich eine Hand unter die Pyjamajacke, spreizte die Finger auf dem Bauch, streckte einen Daumen nach oben bis an ihre Brust, so wie Matt es getan hatte. Sie stellte sich vor, es wäre seine Hand.
Er hatte ihr zum Geburtstag eine Goldkette mit Medaillon geschenkt, die sie seit jenem Tag vor sechs Monaten nicht abgenommen hatte. Josie trug sie auf der DVD. Nachdem Matt ihr die Kette umgelegt hatte, war ihr aufgefallen, dass er auf der Rückseite des Medaillons einen Daumenabdruck hinterlassen hatte. Weil ihr das so intim erschienen war, hatte sie in den Tagen darauf höllisch aufgepasst, damit der Abdruck nicht verwischte.
In der Nacht, in der Josie sich mit Matt im Garten getroffen hatte, unter dem Mond, hatte er gelacht, als er ihren lustig bedruckten Pyjama sah. Was hast du gerade gemacht, als ich dich angesimst hab?, fragte er.
Geschlafen. Wieso wolltest du mich unbedingt mitten in der Nacht sehen?
Um dich zu fragen, ob du auch von mir geträumt hast, sagte er.
Auf der DVD rief jemand Matts Namen. Er drehte sich um und grinste. Er hatte Wolfszähne, dachte Josie. Spitz, unglaublich weiß. Er drückte ihr einen Kuss auf den Mund. »Bin gleich wieder da«, sagte er.
Bin gleich wieder da.
Josie drückte wieder den Pause-Knopf, genau in dem Moment, als Matt aufstand. Dann hob sie die Hand und riss das Medaillon von der Goldkette. Sie öffnete den Reißverschluss von einem Couchkissen und stopfte es tief in die Füllung.
Sie schaltete den Fernseher aus und stellte sich vor, Matt würde für alle Zeit so in der Bewegung verharren, nur wenige Zentimeter von Josie entfernt, sodass sie nur die Arme nach ihm auszustrecken brauchte, obwohl sie wusste, dass der DVD-Player in den Stand-By-Modus schalten würde, noch ehe sie aus dem Zimmer war.
Lacy hatte gewusst, dass sie keine Milch mehr im Haus hatten. An dem Morgen, als sie und Lewis wie Zombies am Küchentisch saßen, hatte sie es erwähnt:
Die Milch ist alle.
Lacy fand es schier unerträglich, dass sie Peter erst wieder in einer Woche besuchen konnte - Haftvorschriften. Und es machte sie fertig, dass Lewis noch gar nicht bei ihm gewesen war. Wie sollte sie den normalen Alltag durchstehen, wenn ihr Sohn keine zwanzig Meilen entfernt in einer Zelle saß?
Man konnte an einen Punkt kommen, an dem die Ereignisse über einen hereinbrachen wie ein Tsunami. Lacy wusste das, denn sie war schon einmal von Trauer fortgespült worden. Wenn das geschah, fandest du dich Tage später auf unbekanntem Boden wieder, ohne Wurzeln. Und dann blieb dir nur die Wahl, höher gelegenes Gelände zu erreichen, solange du noch konntest.
Allein aus diesem Grund beschloss Lacy, zum nächsten Tankstellenshop zu fahren, um eine Packung Milch zu kaufen, obwohl sie sich viel lieber ins Bett verkrochen und geschlafen hätte. Ganz so einfach war das aber nicht, denn als Erstes musste sie das
Auto aus der Garage setzen, durch eine Traube von Reportern hindurch, die ihr den Weg versperrten. Dann musste sie dem Übertragungswagen entwischen, der ihr bis zum Highway folgte. Schließlich kaufte sie die Milch an irgendeiner entlegenen Tankstelle in Purmont, New Hampshire.
»Das macht 2,59 Dollar«, sagte der Mann an der Kasse.
Lacy öffnete ihr Portemonnaie und fischte drei Dollar heraus. Dann fiel ihr Blick auf eine Kaffeedose, vor der ein kleines handgeschriebenes Schild aufgestellt war. Spenden Sie für die Opfer der Sterling High.
Sie fing an zu zittern.
»Ja«, sagte der Kassierer. »Eine furchtbare Geschichte, nicht? Da fragt man sich, was der Bursche für Eltern hat, oder? Ich meine, die müssen doch irgendwas mitgekriegt haben!«
Lacy nickte. Es wäre so einfach zuzustimmen: Hatte es je ein schrecklicheres Kind gegeben? Eine schlimmere Mutter?
Wie leicht sagte man, dass hinter jedem furchtbaren Kind furchtbare Eltern standen, aber was war mit denjenigen, die wirklich ihr Bestes getan hatten? Was war mit Müttern wie Lacy, die mit ganzem Herzen geliebt, bedingungslos behütet und zärtlich umsorgt - und
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