19 Minuten
trotzdem einen Mörder großgezogen hatten?
Ich hatte keine Ahnung, wollte Lacy sagen. Es ist nicht meine Schuld.
Aber sie schwieg, weil sie nicht sicher war, ob sie das glaubte.
Lacy lehrte den Inhalt ihres Portemonnaies in die Kaffeedose, Scheine und Münzen. Benommen wankte sie nach draußen, ließ die Packung Milch an der Kasse stehen.
Sie hatte nichts mehr in sich. Sie hatte alles ihrem Sohn gegeben. Und das war eigentlich die schmerzhafteste Erkenntnis -so wunderbar, wie wir uns unsere Kinder wünschen, so perfekt, wie wir sie uns einreden, müssen sie einfach enttäuschen. Im Grunde sind unsere Kinder uns ähnlicher, als wir glauben: im Innersten beschädigt.
Alex war nicht die Kurzform von Alexandra, wie die meisten vermuteten. Ihr Vater hatte ihr schlicht den Namen des Sohnes gegeben, den er lieber gehabt hätte.
Alex war fünf gewesen, als ihre Mutter an Brustkrebs starb, und ihr Vater hatte sie allein großgezogen. Er war kein Vater gewesen, der seinen Kindern Fahrradfahren beibrachte oder wie man Steine übers Wasser hüpfen ließ, stattdessen lehrte er sie Fremdwörter oder erklärte ihr die Grundrechte. Seine Anerkennung verdiente sie sich durch glänzende Noten in der Schule und ein Abschlusszeugnis, das ihr den Weg in jede Uni des Landes eröffnete.
Sie wollte werden wie ihr Vater, eine Respektsperson, der alle mit Hochachtung begegneten.
Zu so einem Vater gehörte es eben, dass er sie nie auf den Schoß nahm, ihr nie einen Gutenachtkuss gab, nie sagte, dass er sie lieb hatte. Von ihrem Vater hatte Alex gelernt, dass sich alles zu Fakten destillieren ließ. Trost, elterliche Fürsorge, Liebe - all das ließ sich mit Worten erklären und musste nicht erfahren werden. Und das Gesetz untermauerte das Glaubenssystem ihres Vaters. Für jedes Gefühl, das du in einem Gerichtssaal hattest, gab es eine Erklärung. Emotionen waren erlaubt, innerhalb eines logischen Rahmens. Was du für deine Mandanten empfandest, war losgelöst von deinem Herzen, zumindest konntest du so tun, damit niemand nah genug an dich herankam, um dir wehzutun.
Alex' Vater hatte einen Schlaganfall, als sie kurz vor Abschluss ihres Jurastudiums war. Sie hatte im Krankenhaus an seinem Bett gesessen und ihm gesagt, dass sie ihn liebe.
»Ach, Alex«, hatte er geseufzt. »Lass uns nicht jetzt noch damit anfangen.«
Auf seiner Beerdigung hatte sie keine Träne vergossen, weil sie wusste, dass ihr Vater das so gewollt hätte.
Hätte ihr Vater sich gewünscht, dass ihre Beziehung inniger gewesen wäre? Hatte er irgendwann die Hoffnung aufgegeben und sich damit abgefunden, dass ihr Umgang eher wie der zwischen Lehrer und Schülerin war als zwischen Vater und Tochter? Wie lange konnten Eltern sich parallel zu ihren Kindern bewegen, bis die letzte Chance vertan war, dass ihre Lebenswege sich kreuzten?
Alex hatte im Internet zahllose Webseiten über Trauer und Trauerphasen und die Folgen von anderen Schulmassakern studiert. Sie konnte sich informieren, aber wenn sie auf ihre Tochter zuging, erntete sie verstörte Blicke oder Josie brach in Tränen aus. Alex fühlte sich unfähig und hilflos - und prompt kam sie sich noch mehr wie eine Versagerin vor.
Die Ironie des Ganzen war Alex nicht entgangen: Sie ähnelte ihrem Vater mehr, als sie es je für möglich gehalten hätte. Sie fühlte sich wesentlich wohler in ihrem Gerichtssaal als in ihren eigenen vier Wänden. Sie wusste genau, was sie zu einem Angeklagten sagen musste, der die dritte Anklage wegen Alkohols am Steuer kassiert hatte, aber sie schaffte kein Fünfminutengespräch mit ihrer eigenen Tochter.
Zehn Tage nach dem Amoklauf an der Sterling High ging Alex in Josies Zimmer. Es war helllichter Tag, und die Jalousien waren heruntergelassen. Josie hatte sich in dem Kokon versteckt, den sie aus ihrer Bettdecke gemacht hatte. Statt ihrem unmittelbaren Impuls zu folgen und die Jalousien hochzuziehen, legte Alex sich aufs Bett und schlang die Arme um das Bündel, das ihre Tochter war. »Als du klein warst«, sagte Alex, »hab ich manchmal bei dir geschlafen.«
Josie bewegte sich, und die Decke glitt von ihrem Gesicht. Ihre Augen waren rotgerändert, das Gesicht verquollen. »Warum?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich hatte Angst vor Gewittern.«
»Aber du hast morgens nie neben mir gelegen, wenn ich wach wurde.«
»Ich bin vorher immer zurück in mein Bett. Als deine Mutter musste ich die Starke sein ... du solltest schließlich nicht denken, ich hätte vor irgendwas
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