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192 - Nah und doch so fern

192 - Nah und doch so fern

Titel: 192 - Nah und doch so fern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Seidel
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Primärrassenvertreter?)
    »Da sind sie!« Bienentänzer packte den Daa’muren am Arm und wies auf eine Felswand. »Siehst du? Da vorn!«
    Grao’sil’aana musterte die angegebene Stelle. Da war ein Loch im Felsen, ähnlich einer Baumhöhle. Dicke, samtig glänzende Trauben hingen darin. Sie bewegten sich, und bei genauerem Hinsehen konnte man erkennen, dass es sich um Tausende schwarzer Bienen handelte, groß wie Daumen. Ihr Giftstachel hatte die unsinnige Eigenart, sich beim Stechen zu verhaken, längst aufgegeben. Sie besaß auch keinen Plüschpelz mehr. An seine Stelle war dickes, hartes Chitin getreten.
    Der Bienentänzer zog einen Kasten aus der mitgebrachten Tasche, etwa armlang und nicht sehr tief. Er war aus Igoanaknochen gefertigt und in Waben unterteilt.
    »Das erspart ihnen Arbeit! So haben sie mehr Zeit für den Honig«, erklärte er und warnte Grao’sil’aana davor, näher an die Barnanyin heran zu gehen. »Wenn sie sich bedroht fühlen, stechen sie dich! Mir tun sie nichts, denn ich verstehe ihre Sprache.«
    »Ich wusste gar nicht, dass Insekten sprechen können«, sagte Grao’sil’aana.
    Bienentänzer lachte. »Na ja, nicht in Worten. Sie machen Bewegungen, wie… wie eine Zeichensprache. Sie drehen sich hin und her und wackeln mit den Flügeln, So erzählen sie sich, wo es die besten Blüten gibt oder ob ein Feind naht. Ich sag ihnen jetzt mal, dass ich keiner bin!«
    Grao’sil’aana wirkte irgendwie angewidert, als sich der Mandori summend vornüber beugte und losruckte. Mal nach links, mal nach rechts. Es sah so blöde aus, und ganz sicher verstanden die Barnanyin kein Wort. Dass sie trotzdem nicht angriffen, als Bienentänzer den gefüllten Wabenkasten aus ihrer Felsspalte zog, hatte wahrscheinlich eher etwas mit seiner Schweißkonsistenz zu tun.
    Vorsichtig stellte er die schimmernde Honigernte ab. Dann räumte er den Unrat unterhalb der Felsen fort. Mäuse, Käfer, Nachtfalter… auch ein Dachs hatte die Grenzlinie überschritten und war wie alle anderen getötet worden. Seine vermodernden Reste landeten in einem Sack.
    »Davon hab ich immer welche auf Vorrat hier«, sagte der Bienentänzer. »Meine fleißigen kleinen Freunde mögen es nicht, wenn es vor ihrer Höhle stinkt, deshalb komm ich regelmäßig her und mache sauber. Das ist meine Art, ihnen für den Honig zu danken.«
    (Verstand hat er keinen, aber er ist mutig), urteilte Grao’sil’aana, als der Mann den neuen Kasten einsetzte.
    Wolken erregter Barnanyin umkreisten ihn mit dunklem, aggressiven Summen.
    »Ach!« Grao’sil’aana hieb sich auf die Schulter. Eine übereifrige Biene hatte versucht, mit ihrem Stachel die Myriaden winzigster Schuppenplättchen zu durchdringen, aus denen sein gestaltwandlerischer Echsenkörper bestand.
    Bienentänzer barg den Honigkasten und schulterte seine Tasche, dann machten sie sich auf den Rückweg. Eine ganze Weile trottete er neben Grao’sil’aana her und erzählte von seinen Bienen. Er schien erfreut zu sein, dass er endlich jemanden gefunden hatte, der ihm zuhörte. Doch gerade als der genervte Daa’mure ihn mit einem mentalen Befehl zum Schweigen bringen wollte, sagte Bienentänzer übergangslos:
    »Warnambi mag dich nicht.«
    »Der Schamane?«
    »Ja.« Bienentänzer nickte. »Er glaubt nicht, dass du den Owomba getötet hast.«
    »Warum bezichtigt mich Warnambi der Lüge?«
    Bienentänzer zuckte die Schultern.
    »Na ja, zum einen, weil er sich nicht erklären kann, wie du auf den Rücken der Bestie gelangt bist.«
    Grao’sil’aana gab ihm das verwischte Bild einer Kampfszene als Pseudoerinnerung ein, dann fragte er: »Und zum anderen?«
    »Zum anderen, weil Warnambi jedem misstraut. Immer, überall, bei jeder Kleinigkeit.« Bienentänzer nickte nachdenklich. »Vielleicht nicht ohne Grund.«
    »Wie meinst du das?«, forschte der Daa’mure, und der Alte erzählte es ihm.
    »Weißt du – als wir noch am Schildkrötenfluss lebten, hatte sich Warnambi in ein Mädchen verliebt. Da war er noch jung, das ist viele Jahre her. Namagilly war die Tochter unseres damaligen Anführers. Warnambi wollte sie unbedingt haben, aber sie hatte nur Augen für Nimbutj-ja und hat ihn ausgelacht. Ihr Vater war auch nicht bereit, sie Warnambi zu geben. Es heißt, er wäre sogar heimlich zu Junnup gegangen, unserem Heiler, und hätte ihn um einen Trank gebeten. Der sollte Warnambis Verliebtsein beenden.« Bienentänzer seufzte. »Ja, und kurz darauf ist Warnambi plötzlich erblindet. Keiner weiß, warum.

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