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1948 - Roman

1948 - Roman

Titel: 1948 - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Erinnerung geblieben, tief hinter all den Zwiebelschalen, mit denen jeder sich umhüllt. Wir fingen an zu reden, ein paar Sätze, ich sagte etwas, war aufgeregt, auch er war bewegt, und dann gingen uns auf einmal die Worte aus. Mein Leben und seins waren nicht mehr das gleiche. Wir teilten die Erinnerung an einen Tag an Bord des Schiffes, als er ein geschundener und zorniger Junge war, der die Brillanten seiner toten Eltern an SS-Männer verkauft hatte, und jetzt war er ein älterer Mann, der mir seine Frau und seine Tochter oder Enkelinvorstellte, ich weiß es nicht mehr genau. Wir verharrten einen Moment stumm und verabschiedeten uns dann, denn wir hatten uns nichts mehr zu sagen. Die Erinnerungen wechselten Blicke und Sätze, aber uns fehlten nun die Worte.

8
    1946, als ich noch das Neue Gymnasium besuchte, ging ich zwischen der Mathematik- und der Geschichtsstunde an den Frischmann-Strand hinunter, um nachzudenken, denn das Meer ölte mir immer die Gehirnganglien. Dauernd musste ich an den Mann mit dem gequälten Clown-Gesicht denken, der meinen Vater aufgesucht hatte, und an das Blut und die letzten Atemzüge des Arabers, der um sein Leben gefleht hatte. Ich hatte ja buchstäblich gesehen, wie er seinen Geist aushauchte, und dachte mir, dass ich mit entsprechender Kleidung vielleicht genau wie er ausgesehen hätte.
    Ich saß da und rauchte, es wehte ein frischer Wind, klare Luft drang mir tief in die Lungen. Aus dem Hotel Käte Dan trat eine große, bezaubernde Dame im Seidenkleid, einen breitrandigen Strohhut auf dem Kopf, und lächelte mir zu. Ich erwiderte ihr Lächeln. Sie kenne meinen Onkel Josef, den schönsten Mann im Land, sagte sie, und ich solle mich vor Schönheit in Acht nehmen, Schönheit sei etwas Fatales, Menschen fürchteten sich vor Schönheit, wollten sich daran rächen. Sie war bildschön, hatte ein ovales, aristokratisches Gesicht wie auf einem Gemälde von Botticelli. Ich zog eine Zigarette Marke Player’s aus der Zehnerpackung, die ich zuvor am Kiosk in der Ben-Jehuda-Straße gekauft hatte, und die Frau, die nach Puder und dezentem Kölnisch Wasser duftete, beugte sich nieder zu mir, zündete mir mit einem goldschimmernden Feuerzeug dieZigarette an, blickte mir ins Gesicht und sagte: Du bist wirklich ein liebenswerter Junge, wie es dein Onkel Josef gewesen ist, hast kräftiges Haar, und nimm dich in Acht. Dann kam ein schwarzes Taxi mit einer dreistelligen Zahl in Grün auf dem Nummernschild – 333. Ich fand sie großartig, diese 333, und die elegante Riesin schlüpfte mit einer Pirouette ins Taxi und entschwand für immer. Ich rauchte weiter mit Blick auf die Brandung am Frischmann-Strand und dachte in der zweiten Person: Yoram, was tust du hier eigentlich?
    Im Juli 1947 tauchte die »Exodus« vor der Küste des Landes auf, wir hörten im Hagana-Sender die Rede des Kommandanten, Gerüchte kursierten, und die Passagiere wurden nach Deutschland deportiert. Abgesandte der Vereinten Nationen trafen ein und befürworteten die Gründung zweier Staaten auf dem Gebiet von Palästina/Erez Israel, und das Land jubelte und war froh. Die Bäume jubelten. Die Strommasten jubelten. Die Waschwannen auf den Dächern jubelten. Und als der 29. November, der Tag der Abstimmung in der UN -Vollversammlung, gekommen war, standen alle draußen oder scharten sich um die wenigen Besitzer eines Radioapparats und lachten so glücklich, wie sie es nie zuvor gewesen waren und nie wieder sein würden. Aufgeregt, energisch, flehentlich, vertrauensvoll, ängstlich zählten sie die abgegebenen Stimmen in New York. Durch offene Fenster, in Cafés, in Schuhmacherwerkstätten, in Bäckereien riefen alle die Zahlen, als sei es ein Gebet. Tausende von Menschen sangen zusammen, 1 2 3 4 …, und dann brandete der Jubel auf. Zweitausend Jahre Diaspora und Furcht und Erniedrigung gingen zu Ende. Wir tanzten auf den Straßen, begrüßten tanzend das Ereignis, von dem es Jahre später heißen würde, dies sei der Anfang der Nakba gewesen, wir hättendie Nakba angezettelt, um Araber zu vertreiben. Ecke Dizengoff- und Frischmann-Straße lag damals ein Leergrundstück, gegenüber der Fläche, auf der später das Gebäude des Cameri-Theaters erbaut wurde, das heute das Beit-Lessin-Theater beherbergt. Dort wurden Holzscheite für ein Lagerfeuer zusammengetragen. Die Inhaber der umliegenden Cafés brachten Getränke, und wir tanzten die ganze Nacht hindurch, und früh am nächsten Morgen ging der Krieg los.
    Der Überlandverkehr geriet

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