1976 - Das Jesus-Papier
werden sollen, aber damals herrschte Arroganz. Es könnte einen großen Teil der Welt in schreckliches Leid stürzen. Niemand kann den Schmerz rechtfertigen.«
»Aber Sie sagen, nichts ist verändert«, erwiderte Victor und wiederholte die Worte des Mönchs. »Und doch ist alles verändert. Das eine widerspricht dem anderen, das gibt keinen Sinn.«
»Das Geständnis auf jenem Pergament gibt einen Sinn. In all seiner Qual. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen.«
Fontine ließ die Augen des Priesters nicht los. »Wußte mein Vater von dem Pergament? Oder hat man ihm nur gesagt, was man Brevourt gesagt hat?«
»Er wußte es«, sagte der Mönch von Xenope. »Die Filioque-Verwerfungen waren wie Ihre amerikanischen Artikel der Amtsenthebung Rechtsbelehrungen für eine kanonische Debatte. Selbst das, was den meisten Schaden anrichten könnte, wie Sie es nannten - die aramäische Schriftrolle -unterlag den linguistischen Interpretationen des Altertums. Fontini-Cristi hatte begriffen, worauf es ankam, Brevourt begriff es nicht. Aber über das Geständnis auf jenem Pergament gibt es keine Debatte. Es war das eine Schreckliche, das Fontini-Cristis vollen Einsatz erforderte. Das verstand und akzeptierte er.«
»Ein Geständnis auf einem Pergament, das man aus einem römischen Gefängnis geholt hat.« Fontine sprach ganz leise. Er begriff, worum es ging. »Das ist es also, was in der Kassette von Konstantin liegt.«
»Ja.«
Victor ließ den Augenblick vorübergehen. Er beugte sich in dem Stuhl nach vorn, die Hand auf den Stock gestützt. »Sie sagten, der Schlüssel sei hier. Aber warum? Donatti hat hier gesucht - jede Mauer, jedes Fußbodenbrett, jeden Zentimeter Boden. Sie sind siebenundzwanzig Jahre hiergeblieben, und doch ist immer noch nichts gefunden. Was bleibt Ihnen da noch?«
»Die Worte Ihres Vaters, die in diesem Raum gesprochen wurden.«
»Und was waren das für Worte?«
»Daß die Zeichen hier in Campo di Fiori sein würden. Für ein Jahrtausend eingegraben. Das war der Satz, den er gebrauchte. >Für ein Jahrtausend eingegrabene Und sein Sohn würde verstehen. Es war Teil seiner Kindheit. Aber man hat seinem Sohn nichts gesagt. Das haben wir erkennen müssen.«
Fontine lehnte ein Bett in dem großen Haus ab. Er würde im Stall schlafen. In dem Bett, auf das er vor einem Menschenalter den toten Barzini gelegt hatte.
Er wollte allein sein, isoliert und vor allem außerhalb des Hauses, fern der toten Reliquien. Er mußte denken, mußte das Schreckliche immer wieder durchlaufen, bis er das noch fehlende Bindeglied fand. Denn jetzt war es da, es gab ein Muster. Was noch fehlte, war der Strich, der den Plan vervollständigte.
Teil seiner Kindheit. Nein, nicht dort, noch nicht. Fang nicht dort an, es kommt später. Es galt, mit dem anzufangen, was man wußte, man sah, was man selbst hörte.
Er erreichte die Stallungen und ging durch die leeren Räume, vorbei an den leeren Boxen. Es gab dort keine Elektrizität mehr. Der alte Mönch hatte ihm eine Taschenlampe gegeben. Barzinis Zimmer war so, wie er es in Erinnerung hatte. Kahl, ohne Schmuck. Das schmale Bett, der abgewetzte Armsessel, die einfache Truhe für seine wenigen Habseligkeiten.
Auch der Raum mit dem Zaumzeug war so, wie er ihn das letztemal gesehen hatte. Riemenzeug und Geschirre an den Wänden. Er setzte sich auf eine kleine hölzerne Steigbügelbank und atmete dabei schmerzerfüllt aus. Er schaltete die Taschenlampe ab. Das Mondlicht schien durch die Fenster. Er zwang seine Gedanken, in jene schreckliche Nacht zurückzukehren.
Das Knattern von Maschinengewehrfeuer erfüllte seine Ohren, weckte die Erinnerung, die er so verabscheute. Da waren wieder die wirbelnden Rauchwolken, die gekrümmten Leiber von Menschen, die er liebte, im Augenblick des Todes, so wie er sie im blendenden Licht der Scheinwerfer gesehen hatte.
Champoluc ist der Fluß! Zürich ist der Fluß!
Die hinausgeschrienen Worte, dann noch einmal, zweimal, dreimal. Ihm entgegengeschrien, aber nach weiter oben gezielt, als er war, über ihm, während die Kugeln die Brust und den Leib seines Vaters durchbohrten.
Champoluc ist der Fluß!
Der Kopf erhoben? War es das? Der Kopf, die Augen. Es ist immer in den Augen. Den Bruchteil einer Sekunde, bevor die Worte kamen, waren die Augen seines Vaters nicht auf die Böschung gerichtet gewesen, nicht auf ihn.
Sie waren auf eine Stelle rechts von ihm gerichtet gewesen, schräg. Savarone hatte die Automobile angestarrt, das dritte
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