1976 - Das Jesus-Papier
verlangsamen, und fuhr dann einige Kilometer. Er ließ sich von zwei Wagen überholen, beobachtete die Fahrer; sie zeigten kein Interesse für ihn. Er kehrte um und fuhr ein zweites Mal am Eingangstor vorbei. Man konnte nicht sagen, was drinnen auf ihn wartete, ob es irgendwelche Sicherheitsmaßnahmen gab - Stolperfallen oder Hunde. Er konnte nur eine sich windende, gepflasterte Straße sehen, die im Wald verschwand.
Das Geräusch eines Automobils auf jener Straße würde für sich schon ein Alarm sein. Das durfte er nicht riskieren. Er hatte nicht die Absicht, seine Ankunft in Campo di Fiori anzukündigen. Er verlangsamte die Fahrt, bog in den angrenzenden Wald und fuhr so weit von der Straße herunter, wie das möglich war.
Fünf Minuten später näherte er sich dem Tor. Er sah sich gewohnheitsmäßig nach Drähten oder Fotozellen um (es gab keine), und er passierte das Tor und ging die Straße hinunter, die frühere Generationen durch den Wald geschlagen hatten.
Er hielt sich am Rand, geschützt durch die Bäume und das Unterholz, bis er das Hauptgebäude sehen konnte. Es war so, wie sein Vater es beschrieben hatte, mehr tot als lebendig.
Die Fenster waren dunkel, drinnen brannte kein Licht, dabei hätte welches brennen sollen. Das Haus lag im Schatten. Ein alter Mann, der allein lebte, brauchte Licht; alte Männer vertrauten ihren Augen nicht. War der Priester gestorben?
Plötzlich kam aus dem Nichts das Geräusch einer Stimme, hoch und klagend. Dann Schritte. Sie kamen von der Straße hinter der nördlichen Biegung der Zufahrt. Die Straße, die sein Vater ihm beschrieben hatte und die zu den Stallungen führte. Fontine ließ sich zu Boden fallen, so daß das Gras ihm Deckung bot, und hielt sich ganz still. Er hob den Kopf ein paar Zentimeter, wartete und beobachtete.
Jetzt tauchte der alte Priester auf. Er war mit einer langen schwarzen Kutte bekleidet und trug einen Weidenkorb. Er redete laut, aber Andrew konnte nicht sehen, mit wem er sprach. Auch die Worte konnte er nicht verstehen.
Dann blieb der Mönch stehen, drehte sich um und sprach wieder.
Eine Antwort kam. Sie war schnell, wirkte befehlsgewohnt und war in einer Sprache, die Fontine nicht gleich erkannte. Dann sah er den Begleiter des Mönches und versuchte, ihn einzuschätzen, so wie man einen Gegner einschätzt. Der Mann wirkte hünenhaft, er hatte breite Schultern, die in einer Kamelhaarjacke steckten, zu der er eine gutgeschnittene Hose trug. Die letzten Strahlen der Sonne beleuchteten beide Männer; nicht gut - sie hatten das Licht im Rücken -, aber ausreichend, um ihre Gesichter erkennen zu können.
Andrew konzentrierte sich auf den jüngeren, kräftig gebauten Mann, der hinter dem Priester ging. Sein Gesicht war breit, die Augen lagen weit auseinander unter hellen Brauen und einer gebräunten Stirn, von der sich das kurzgeschnittene, von der Sonne gebleichte Haar abhob. Er war Mitte der Vierzig, allerhöchstens. Und die Art, wie er ging, war der Gang eines Mannes, der zu überlegen pflegte, imstande, sich schnell zu bewegen, aber nicht daran interessiert, daß ein Beobachter das merkte. Fontine hatte solche Männer befehligt.
Der alte Mönch ging auf die Marmortreppe zu, verlagerte den kleinen Korb auf den linken Arm und hob mit der Rechten die Falten seines Talars. Er trat auf die oberste Stufe und drehte sich wieder zu dem Jüngeren um. Seine Stimme war ruhiger, hatte sich offenbar mit der Anwesenheit des Laien oder seinen Instruktionen oder beidem abgefunden. Er sprach langsam, und Fontine fiel es jetzt nicht schwer, die Sprache zu erkennen. Der Mönch sprach griechisch.
Während er dem Priester zuhörte, gelangte er zu einem weiteren, ebenso offenkundigen Schluß. Der kräftig gebaute Mann war Theodore Anaxas Dakakos. Er ist ein Stier.
Der Priester ging über die breite, mit Marmorplatten belegte Terrasse auf die Türen zu. Dakakos ging die Treppe hinauf und folgte ihm. Beide Männer betraten das Haus.
Fontine lag einige Minuten im Gras. Er mußte nachdenken. Was führte Dakakos nach Campo di Fiori?
Und während sich die Fragen formten, drängte sich auch schon die einzige Antwort auf. Dakakos, der Einzelgänger, war die unsichtbare Macht hier. Das Gespräch, das er gerade mitangehört hatte, war kein Gespräch zwischen Fremden.
Es galt jetzt festzustellen, ob Dakakos allein nach Campo di Fiori gekommen war. Oder hatte er sich Schutz mitgebracht, seine eigenen Truppen sozusagen? Es gab niemanden im Haus, keine Lichter in den
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