1976 - Das Jesus-Papier
alpine Ausrüstung zu lenken. Der Vater, ein oder zwei Onkel und ganz sicher die älteren Söhne schienen abgelenkt. Mit einem der Goldoni-Söhne wurde vereinbart, daß er uns am nächsten Tag abholen und uns in die Berge führen sollte. Wir blieben ein paar Stunden bei den Goldonis, ehe wir unsere Reise mit dem Karren zur Locanda Capomonti fortsetzten. Ich erinnere mich, daß es finster war, als wir abfuhren, und da es Sommer war, mußte es zwischen halb acht und acht gewesen sein.
Das waren die Fakten, dachte Andrew. Mann und Junge trafen im Dorf ein, aßen etwas, kauften von einem unbeliebten Juden Vorräte, gingen zum Haus der Führer, die sie anstellen wollten, und ein verzogenes Kind war beleidigt, weil man seinem Klettergerät nicht genügend Aufmerksamkeit widmete. Die wichtige Information beschränkte sich auf den Namen Goldoni.
Andrew trank seinen Kaffee aus und schraubte den Deckel wieder auf die Thermosflasche. Die Sonne stand jetzt höher; es war Zeit weiterzufahren. Ein Gefühl der Befriedigung erfüllte ihn. All die Jahre der Ausbildung, der Erfahrung und der Entscheidungen im Feld hatten ihn auf die nächsten paar Tage vorbereitet. Es gab eine Kassette in den Bergen, und er würde sie finden!
Das Eye Corps würde volle Entschädigung finden.
Der Soldat drehte den Zündschlüssel um und ließ den Motor an. Er mußte Kleidung, Geräte und Waffen kaufen. Und einen Mann namens Goldoni aufsuchen. Vielleicht eine Frau namens Goldoni; das würde er in Kürze wissen.
Adrian saß in der Finsternis hinter dem Steuer des stehenden Wagens und wischte sich den Mund mit dem Taschentuch. Er konnte den Geschmack von Übelkeit in seiner Kehle ebensowenig auslöschen, wie er den Anblick der zerfleischten Körper aus seinem geistigen Auge löschen konnte. Oder den Gestank aus seiner Nase.
Schweiß rann ihm über das Gesicht, Schweiß, den eine Spannung in ihm erzeugte, die er nie zuvor gekannt, eine Furcht, die er nie erlebt hatte.
Er spürte, wie es ihn wieder würgte, aber er unterdrückte den Krampf, indem er tief einatmete. Er mußte die Kontrolle über sich zurückgewinnen, mußte funktionieren. Er konnte nicht den Rest der Nacht im Finstern bleiben in einem unbeweglichen Wagen. Er mußte den Schock hinter sich bringen und wieder zu sich zurückfinden. Das war alles, was ihm geblieben war: die Fähigkeit zu denken.
Instinktiv zog er die Blätter mit den Erinnerungen seines Vaters aus der Tasche und knipste die Lampe an. Die Sätze waren seine Zuflucht geworden; er war ein Analytiker von Wörtern - ihrer Schattierungen, ihrer subtilen Interpretationen, ihrer Einfachheit und ihrer Kompliziertheit. Er war ein Experte für Worte, ebenso wie sein Bruder ein Experte des Todes war.
Adrian nahm sich eine Seite nach der anderen vor, las langsam, sorgfältig. Kind und Mann waren in das Dorf Champoluc gekommen; es gab unmittelbare Eindrücke eines Mißklangs, vielleicht sogar mehr als eines Mißklangs. Als er zurückkehrte, war er sehr erregt... ich fürchtete, unsere Fahrt... würde abgesagt werden. Da gab es das Geschäft eines Juden und Zorn. Ich kann mich nicht genau erinnern, worum es sich bei dem unangenehmen Zwischenfall handelte, aber es war sehr ernst und provozierte in meinem Vater stummen, aber deutlichen Zorn. Und Trauer. Ein trauriger Zorn, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt. Dann verblaßten der Zorn und die Traurigkeit, und an ihre Stelle traten unbestimmte Gefühle der Unruhe, Verlegenheit. Diejenigen, deren Aufmerksamkeit er suchte, achteten nicht auf den Jungen. Der Vater, ein oder zwei Onkel und ganz sicher die älteren Söhne schienen abgelenkt. Ihre Aufmerksamkeit galt anderem - dem Zorn, der Verstimmung? Der Traurigkeit? Und an die Stelle dieser obskuren Erinnerungen traten Erinnerungen an Wärme, an einen Gasthof im Norden des Dorfes, ein warmer Willkomm, wie es früher schon dutzendemal der Fall gewesen war. Diesem friedlichen Zwischenspiel folgte kurz darauf erneut das vage Gefühl von Unruhe und Besorgnis.
In dem Gasthof Capomonti gibt es wenig, woran ich mich deutlich erinnern kann, nur daran, daß uns ein warmer Willkomm zuteil wurde, so wie es früher schon dutzende Male der Fall gewesen war. Eines, woran ich mich erinnere, war, daß ich zum erstenmal in den Bergen mein eigenes Zimmer hatte, keine jüngeren Brüder, die es mit mir teilten. Das war etwas Wichtiges, Neues, und ich kam mir sehr erwachsen vor. Eine Mahlzeit schloß sich an, und mein Vater und der alte Capomonti tranken
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