1976 - Das Jesus-Papier
nachher eine ganze Menge Whisky. Daran erinnere ich mich, weil ich zu Bett ging, an die Klettertour des folgenden Tages dachte und später unten laute, streitsüchtige Stimmen hörte und mich fragte, ob der Lärm etwa die anderen Gäste wecken würde. Damals war es ein kleiner Gasthof, und es waren vielleicht drei oder vier weitere Gäste eingetragen. Die Sorge war ungewöhnlich, denn ich hatte meinen Vater nie zuvor betrunken gesehen. Ich weiß bis heute nicht, ob er betrunken war, aber der Lärm war jedenfalls beträchtlich. Für einen jungen Mann an seinem siebzehnten Geburtstag, der im Begriff stand, das Geschenk seines Lebens in Empfang zu nehmen - eine echte Klettertour im Champoluc - war die Vorstellung eines geschwächten, zornigen Vaters am Morgen beunruhigend.
Aber das war nicht der Fall. Der Goldoni-Führer traf mit unseren Vorräten ein, teilte mit uns das Frühstück, und dann zogen wir ab.
Ein Capomonti-Sohn - vielleicht war es auch der junge Lefrac - fuhr uns drei mit dem Pferdekarren ein paar Meilen nach Norden. Wir verabschiedeten uns von ihm und kamen überein, daß er uns am folgenden Tag spätnachmittags am selben Platz abholen würde. Zwei Tage in den Bergen und ein nächtliches Biwak mit Erwachsenen! Ich war vor Freude außer mir, weil ich wußte, daß wir in viel größerer Höhe lagern würde, als das je möglich war, wenn wir meine jüngeren Brüder im Schlepptau hatten.
Adrian legte die Blätter auf den Beifahrersitz. Die restlichen Absätze beschrieben Hügel und Pfade, an die er sich nur undeutlich erinnerte, und Szenen, die sich zu überlappen schienen. Die Reise in die Berge hatte begonnen.
Es mochte durchaus sein, daß in diesen weitschweifigen Schilderungen spezifische Informationen verborgen waren. Vielleicht würden isolierte Landmarken hervorgehoben werden, vielleicht würde sich ein Muster herausstellen - aber welche Landmarken, was für Muster?
Das Gemälde an der Wand! Andrew hatte das Gemälde!
Adrian unterdrückte die plötzliche Unruhe, die ihn überkam. Das Gemälde von Savarones Arbeitszimmer würde vielleicht den Ort einer Lichtung einengen, aber was dann? Fünfzig Jahre waren vergangen. Ein halbes Jahrhundert mit Eis und Wasser und der Schneeschmelze im Frühling, mit natürlichem Wachstum und Erosion.
Es war durchaus möglich, daß das Gemälde ein Hinweis war, vielleicht sogar der wichtigste. Aber Adrian hatte das Gefühl, daß es andere gab, die ebenso wichtig wie jenes Gemälde waren. Sie standen in den Worten des Testaments seines Vaters. Erinnerungen, die fünfzig Jahre eines außergewöhnlichen Lebens überdauert hatten.
Etwas war vor fünfzig Jahren geschehen, das nichts mit einem Vater und einem Sohn zu tun hatte, die in die Berge zogen.
Er hatte wieder einen Teil seines Bewußtseins zurückbekommen. Er nutzte seine Fähigkeit zu denken. Der Schock und der Schrecken waren immer noch da, aber langsam kehrte die Vernunft wieder.
...Verliert nie aus den Augen, der Inhalt jener Kassette ist für die zivilisierte Welt so erschütternd wie nichts anderes in der ganzen Geschichte...
Er mußte sie finden, sie erreichen. Er mußte den Killer vom Eye Corps aufhalten.
30
Andrew parkte den Landrover an einem Zaun, der ein Feld umgab. Der Hof der Goldonis lag zweihundert Meter von der Straße entfernt auf der linken Seite. Das Feld war ein Teil ihres Anwesens. Ein Mann fuhr mit einem Traktor an gepflügten Furchen entlang, wobei er sich immer wieder umsah, um sein Werk zu kontrollieren. Ringsum gab es keine weiteren Häuser, auch Menschen waren keine zu sehen. Andrew beschloß, anzuhalten und mit dem Mann zu sprechen.
Es war kurz nach fünf Uhr nachmittags. Er hatte den Tag damit verbracht, in Champoluc umherzuschlendern, Kleider, Vorräte und Kletterutensilien zu kaufen, darunter auch den besten Rucksack, den es gab. Er hatte ihn mit allen Gegenständen, die für Bergtouren empfohlen wurden und einem weiteren, der dafür nicht benötigt wurde, gefüllt: einer Magnum-Pistole, Kaliber.357. Diese Käufe hatte er in dem wesentlich erweiterten Laden getätigt, der in den Erinnerungen seines Vaters erwähnt war. Das Geschäft trug den Namen Leinkraus; am Türpfosten war eine Mesusa angebracht (hebräisch: »Pfosten«, mit den Abschnitten 5. Moses 6,4 bis 9 und 11,13 bis 21 beschriebenes Pergamentblatt, das in einer Kapsel am rechten Türpfosten jüdischer Häuser befestigt ist und beim Ein- und Austritt ehrfurchtsvoll berührt wird; Anmerkung des Übersetzers). Der
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