1976 - Das Jesus-Papier
Mann. Damals war er natürlich noch kein Mann, denn er war ein oder zwei Jahre jünger als ich, der Sohn eines Händlers, der mit den Capomontis Geschäfte machte. Wir wurden ziemlich gute Freunde. Ich erinnere mich ganz deutlich, daß die Capomontis ihn sehr liebten und damals schon hofften, daß er eine Tochter des Hauses heiraten würde. Offensichtlich hat er das getan.
Als Kinder - und junge Männer - gingen wir nie ins Champoluc, ohne in der Locanda Capomonti abzusteigen. Ich erinnere mich, daß man uns immer sehr herzlich willkommen geheißen hat, erinnere mich an Gelächter, prasselnde Kamine und sehr viel Bequemlichkeit. Die Familie war einfach - im unkomplizierten Sinn -, sehr entgegenkommend und aufrichtig. Savarone mochte sie ganz besonders. Wenn es in Champoluc Geheimnisse zu hinterlassen gab, dann wäre der alte Capomonti ein Felsen des Schweigens und des Vertrauens gewesen.
Andrew legte die Blätter beiseite und griff nach der Michelin-Karte. Wieder verfolgte er die feinen Markierungen der Eisenbahn. Seine Besorgnis stellte sich wieder ein. Von den vielen Lichtungen, an die sein Vater sich erinnerte, blieben nur noch vier. Und keine trug den Namen Falke.
Denn das Jagdbild in dem Arbeitszimmer in Campo di Fiori war nicht so, wie sein Vater es in Erinnerung hatte. Es zeigte keine Vögel, die aus Büschen aufgescheucht wurden. Statt dessen waren da Jäger in üppigen Feldern zu sehen, die Augen und die Waffen auf Falken gerichtet, die am fernen Himmel träge dahinzogen; der Kommentar eines Künstlers zur Sinnlosigkeit der Jagd.
Sein Vater sagte, die Lichtungen hätten Adlerspitze, Kondorblick und Krähengipfel geheißen. Es mußte eine Lichtung geben, die den Namen Falke hatte. Aber wenn es eine solche gegeben hatte, dann gab es sie jetzt nicht mehr. Ein halbes Jahrhundert war verstrichen - obskure Eisenbahnlichtungen unter Alpenpässen, die Dutzende von Kilometern auseinander lagen, waren nicht gerade Landmarken. Wer erinnerte sich schon an die präzise Lage einer Trambahnhaltestelle vor dreißig Jahren, nachdem man die Schienen mit Asphalt bedeckt hatte? Er legte die Karte weg und griff wieder nach den Fotokopien. Der Schlüssel mußte irgendwo in diesen Worten zu finden sein.
Wir machten in der Dorfmitte halt, um Mittagessen einzunehmen oder den Nachmittagstee, daran erinnere ich mich nicht mehr - und Savarone verließ das Restaurant, um sich im Telegrafenamt zu erkundigen, ob eine Nachricht für ihn eingegangen sei. Als er zurückkehrte, war er sehr erregt, und ich fürchtete, unsere Fahrt in die Berge würde abgesagt werden, ehe sie begonnen hatte. Aber während des Essens wurde eine weitere Nachricht gebracht, und Savarone war erleichtert und zufrieden. Es wurde nicht mehr davon gesprochen, nach Campo di Fiori zurückzukehren. Der schreckliche Augenblick war für den besorgten Siebzehnjährigen vorübergegangen.
Vom Restaurant aus suchten wir den Laden eines Händlers auf, dessen Name dem Klang und der Schreibweise nach deutsch war, nicht italienisch oder französisch. Mein Vater neigte dazu, Vorräte und auch seinen sonstigen Bedarf von diesem Mann zu kaufen, weil er ihm leid tat. Er war Jude, und für Savarone, der erbittert gegen die zaristischen Pogrome kämpfte und seine Geschäfte mit den Rothschilds per Handschlag abzuschließen pflegte, war solches Denken unhaltbar. Ich kann mich nicht genau erinnern, worum es sich bei dem unangenehmen Zwischenfall handelte, aber es war sehr ernst und provozierte in meinem Vater stummen, aber deutlichen Zorn. Ein trauriger Zorn, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt. Ich habe den vagen Eindruck, daß man mir Einzelheiten vorenthielt, aber jetzt, so viele Jahre später, ist das nur ein Eindruck und kann sehr leicht falsch sein.
Wir verließen das Geschäft des Händlers und fuhren mit dem Pferdekarren weiter zum Hof der Goldonis. Ich erinnere mich daran, wie ich mit meinem Rucksack, mit seinen Riemen, dem Hammer und den geschmiedeten Doppelkrampen für die Seile prahlte. Ich war schrecklich stolz darauf und der Ansicht, es sei eine Bestätigung meiner Mannheit. Wieder gibt es da einen unbestimmten Eindruck, daß während unseres Aufenthalts bei den Goldonis irgendwie Unruhe herrschte, aber deutlicher erinnere ich mich nicht. Ich kann euch nicht sagen, weshalb mir dieses Gefühl nach so vielen Jahren noch bewußt ist, aber ich beziehe es auf die Tatsache, daß ich Schwierigkeiten hatte, die Aufmerksamkeit der männlichen Goldonis auf mich und meine
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