1976 - Das Jesus-Papier
der eine in einer zerfetzten Kutte, an einen Stuhl gefesselt, der andere halbnackt auf dem Boden, waren scheußlich anzusehen. Ratten hatten ihnen die Kleider zerfetzt, ihr vertrocknetes Blut mischte sich in tierischem Urin und Speichel.
Adrian taumelte, schwankte nach links; der Lichtkegel erfaßte einen Türrahmen, und er sank auf ihn zu, rang nach Atem, nach Luft, die man schlucken konnte.
Er befand sich im Arbeitszimmer von Savarone Fontini-Cristi, dem Mann, den er nie gekannt hatte, jetzt aber mit allem Haß haßte, dessen er fähig war. Der Großvater, der eine Kette von Morden ausgelöst hatte, und einen Argwohn, der in sich wieder Tod und noch größeren Haß in die Welt gebracht hatte.
Worüber? Für was?
»Verdammt sollst du sein!«
Er brüllte es unkontrolliert hinaus, umklammerte die hohe Rückenlehne eines alten Sessels und warf ihn krachend auf den Boden. Plötzlich stand Adrian im Schweigen und im vollen Wissen dessen, was er zu tun hatte, reglos da und richtete die Taschenlampe auf die Wand hinter dem Schreibtisch. Zur Rechten, er erinnerte sich, unter einem Gemälde der Madonna.
Da war der Rahmen, das Glas zerschlagen.
Und das Gemälde war verschwunden.
Er sank auf die Knie, zitterte. Tränen quollen ihm in die Augen, und er schluchzte unkontrolliert.
»O Gott«, flüsterte er, und der Schmerz war unerträglich. »O mein Bruder!«
Teil drei
29
Andrew lenkte den Landrover von der Alpenstraße herunter und goß dampfend heißen Kaffee in den Schraubdeckel der Thermosflasche. Er war gut vorangekommen. Nach der Michelin-Karte war er noch zehn Kilometer von dem Dorf Champoluc entfernt. Es war Morgen. Die Strahlen der Friihsonne schossen hinter den ihn umgebenden Bergen herauf. Bald würde er nach Champoluc hineinfahren und sich die Ausrüstung kaufen, die er brauchte.
Adrian war weit hinter ihm. Andrew wußte, daß er sich ein wenig Zeit lassen, sich die Dinge überlegen konnte. Außerdem stand seinem Bruder eine Situation bevor, die ihn paralysieren würde. Adrian würde die Leichen in Campo di Fiori finden und in Panik geraten; seine Gedanken würden verwirrt, unschlüssig sein. Er würde nicht wissen, was er als nächstes tun sollte. Sein Bruder war nicht dazu ausgebildet, sich dem gewaltsamen Tod gegenüberzusehen, das lag ihm viel zu fern. Für Soldaten war das anders - für ihn war es anders. Die physische Konfrontation - das Blutvergießen selbst - stachelte seine Sinne an, erfüllte ihn mit einem intensiven Gefühl positiver Erregung. Seine Energie befand sich auf ihrem Höhepunkt, er war selbstsicher und von dem überzeugt, was er tat.
Die Kassette gehörte ihm praktisch schon. Jetzt war die Zeit gekommen, sich zu konzentrieren. Er mußte jedes Wort, jeden Hinweis studieren. Er holte die fotokopierten Blätter heraus, die sein Vater ihm gegeben hatte, und hielt sie so, daß das Morgenlicht durch die Windschutzscheibe auf sie fiel.
... In dem Dorf Champoluc gab es die Familie Goldoni. Nach den gegenwärtigen Aufzeichnungen gibt es sie immer noch, sie sind durch die ganze Gegend verstreut. Das augenblickliche Familienoberhaupt ist ein gewisser Alfredo Goldoni. Er wohnte im Haus seines Vaters - und vor diesem dessen Vater - auf einigen Morgen Land am Fuße der Berge im Westen. Seit Generationen galten die Goldonis als die erfahrensten Bergführer in den italienischen Alpen. Savarone bediente sich ihrer häufig. Und außerdem waren sie »nördliche Freunde« -eine Formulierung, die mein Vater gebrauchte, um die Männer des Landes von denen im Markt zu unterscheiden. Er neigte dazu, ersteren viel schneller Vertrauen zu schenken als letzteren. Möglicherweise hat er bei Alfredo Goldonis Vater Informationen hinterlegt. Das bedeutete, daß bei seinem Tod Vorkehrungen getroffen würden, diese Information an das überlebende älteste Kind weiterzugeben - sei es nun Mann oder Frau -, wie es in den Bergen der Brauch ist. Sollte daher Alfredo nicht der Älteste sein, dann sucht nach einer älteren Schwester.
Im Norden, in den Bergen - zwischen den Eisenbahnlichtungen Krähengipfel und Kondorblick, glaube ich - gibt es einen kleinen Gasthof, den die Familie Capomonti betreibt. Nach dem, was ich in Aosta erfuhr (in Champoluc habe ich keine Nachforschungen angestellt, um keinen Argwohn zu erwecken), gibt es auch diesen Gasthof noch. Ich glaube sogar, daß er etwas erweitert worden ist. Im Augenblick wird er von Naton Lefrac geleitet, einem Nachkommen der Capomontis. Ich erinnere mich an diesen
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