1976 - Das Jesus-Papier
würde hier nichts nützen; sie war nicht genau genug. Er zog die .357 Magnum, die er in dem Leinkraus-Laden in Champoluc gekauft hatte. Seine Geiseln waren etwa vierzig Meter entfernt. Der Junge griff nach der Hand des Mädchens; sie waren eng aneinandergedrängt.
Andrew betätigte achtmal nacheinander den Abzug. Die beiden Körper fielen hin, wanden sich auf den Felsen. Er konnte ihre Schreie hören. Binnen Sekunden wurde aus dem Schreien ein Stöhnen, aus dem Zucken unkontrollierte Bewegungen. Sie würden sterben, aber noch nicht gleich. Weiterkommen würden sie jedenfalls nicht.
Der Soldat kroch durch das Gebüsch zurück in die kleine Sackgasse, nahm den Rucksack ab, streifte sich die Gurte langsam herunter und bewegte dabei den blutenden Kopf so wenig wie möglich. Er schnallte den Rucksack auf und holte das Verbandszeug heraus. Er mußte die Platzwunde verbinden und die Blutung stillen. Und er mußte weiter.
Er hatte jetzt keine Geiseln mehr. Er konnte sich einreden, daß es keinen Unterschied machte, aber er wußte es besser. Geiseln waren ein Ausweg. Wenn er allein aus den Bergen herauskam, würden sie ihn beobachten. Sie würden Ausschau halten nach ihm; er war ein toter Mann. Sie würden ihm die Kassette nehmen und ihn töten.
Es gab noch einen anderen Weg. Der junge Lefrac hatte es gesagt.
Die verlassene Straße westlich von der verlassenen Lichtung, die den Namen Jägers Torheit trug! Vorbei an den Gleisen, hinunter zu einem Dorf, dessen Hauptstraße nach Aosta führte.
Aber er würde nicht eher jenes Dorf betreten, bis er nicht den Inhalt der Kassette in Händen hielt. Und jeder Instinkt, den er besaß, sagte ihm, daß er sie gefunden hatte.
Er wickelte die Seile auf, die außen an seinem Rucksack hingen, und spreizte den Enterhaken auf; die Zacken schnappten ein. Er richtete sich auf. Seine Schläfe dröhnte, und die Wunden schmerzten, wo er das blutstillende Mittel gebraucht hatte. Aber dafür hatte die Blutung aufgehört. Er konnte jetzt wieder klar sehen.
Er trat zurück und warf den Enterhaken nach oben. Er blieb beim erstenmal hängen. Er zerrte an dem Seil.
Der Felsen splitterte; Bruchstücke kamen herunter, gefolgt von größeren Kalksteinfragmenten. Er sprang zur Seite, um dem fallenden Haken auszuweichen; er bohrte sich in den Boden.
Andrew fluchte und hievte den Haken erneut himmelwärts, schwang ihn über den Sims weit auf die glatte Fläche darüber. Er zerrte mit kurzen, ruckartigen Bewegungen daran. Der Haken verfing sich. Er zog kräftiger; der Haken hielt.
Das Seil war bereit, er konnte klettern. Er griff nach unten, packte die Gurte seines Rucksacks und schob die Arme durch, verzichtete jedoch darauf, ihn sich vorn festzuschnallen. Ein letztes Mal zerrte er an dem Seil, dann war er befriedigt. Er sprang, so hoch er konnte, stieß die Beine gegen die Felswand und ließ sich dann zurückschwingen, während er Hand über Hand schnell nach oben griff. Er schwang das linke Bein über den ausgezackten Sims, stieß die rechte Hand gegen den Stein darunter und zwang seinen Körper seitwärts über den Felsvorsprung. Er wollte sich gerade aufrichten, als sein Blick zu der Stelle wanderte, wo der Enterhaken sich verfangen hatte.
Erschreckt blieb er in Hockstellung. Drei Meter entfernt in der Mitte des Plateaus war ein alter, verrosteter Stern aus Metall eingebettet: ein Davidsstern.
Der Enterhaken hielt ihn umfangen, seine Zacken hatten sich rings um das Eisen eingegraben.
Er blickte auf ein Grab.
Adrian hörte das Echo durch die Berge schallen wie schnell hintereinander folgende Donnerschläge, einer nach dem anderen. So als hätte der Blitz in den Wald eingeschlagen und hundert Bäume rings um ihn gespalten. Aber das Echo verriet weder Blitz noch Donner; das waren Schüsse.
Trotz der Kälte lief Adrian der Schweiß über das Gesicht, und trotz der Finsternis des Waldes füllten sich seine Augen mit Bildern, die er nicht sehen wollte. Sein Bruder hatte erneut getötet. Der Major vom Eye Corps übte wieder sein Handwerk des Todes aus. Die Schreie, die den Schüssen folgten, waren schwach, vom Wald gedämpft, aber unverkennbar.
Warum? Um Himmels willen, warum?
Er konnte nicht denken. Nicht über solche Dinge, nicht jetzt. Er mußte in nur einer Kategorie denken - der Kategorie der Bewegung. Ein halbes dutzendmal hatte er versucht, aus dem dunklen Labyrinth herauszuklettern und hatte sich jedesmal zehn Minuten Zeit gelassen, um das Licht am Waldrand zu erkennen. Zweimal hatte er
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