1976 - Das Jesus-Papier
zum Schlag der Kriegstrommeln, und das Savoy erkundigte sich nach der Familie!
»Er wird nicht kommen.« Vittorio hielt es nicht für nötig, weitere Erklärungen abzugeben. Die Nachricht hatte England noch nicht erreicht, und wenn doch, so machten die Meldungen vom Krieg sie belanglos. »Übrigens, kennen Sie die Dame dort drüben? In der Uniform.«
Der Manager blickte unauffällig durch die nur schwach besetzte Lobby. »Ja, Sir. Das ist Mrs. Spane. Ich sollte sagen, das war Mrs. Spane; sie sind geschieden. Ich glaube, sie hat wieder geheiratet. Mr. Spane hat das jedenfalls. Wir sehen sie hier nicht oft.«
»Spane?«
»Ja, Sir. Ich sehe, daß sie bei der Luftverteidigung ist. Die nehmen ihre Arbeit sehr ernst, kann man sagen.«
»Danke«, sagte Vittorio und entließ den Manager höflich. »Ich werde jetzt auf meinen Wagen warten.«
»Ja, natürlich, Sir. Wenn wir irgend etwas tun können, um Ihren Aufenthalt angenehmer zu machen, dann zögern Sie nicht, uns Ihre Wünsche wissen zu lassen.«
Der Manager nickte und entfernte sich. Fontini-Cristi sah wieder zu der Frau hinüber. Sie blickte auf die Uhr und widmete sich dann erneut ihrer Lektüre.
Er erinnerte sich des Namens Spane wegen seiner Schreibweise, und wegen der Schreibweise erinnerte er sich auch an den Mann. Es lag elf oder zwölf Jahre zurück. Er hatte Savarone nach London begleitet, um ihn bei Verhandlungen mit British Haviland zu beobachten - das war Teil seiner Ausbildung gewesen. Spane war ihm eines Abends im Les Ambassadeurs vorgestellt worden, ein junger Mann, zwei oder drei Jahre älter als er selbst. Er hatte den Engländer einigermaßen amüsant, aber insgesamt als ermüdend empfunden. Spane war ein Produkt von Mayfair und insoweit durchaus zufrieden, die Früchte der Arbeit seiner Vorfahren zu genießen, ohne selbst einen besonderen Beitrag zu leisten, sah man vielleicht von seinen Kenntnissen um das Geschehen an den Rennplätzen ab. Sein Vater hatte Spane mißbilligt und dies auch seinem ältesten Sohn klargemacht, was natürlicherweise den Sohn zu einer kurzen Bekanntschaft veranlaßte.
Aber sie war wirklich nur kurz gewesen, und plötzlich erinnerte sich Vittorio, weshalb. Daß es ihm nicht gleich in den Sinn gekommen war, war lediglich ein weiterer Beweis dafür, daß er ihre Existenz aus dem größten Teil seiner Erinnerung verdrängt hatte: nicht die der Frau in der Lobby, sondern die seiner eigenen Frau.
Seine Frau war damals, vor zwölf Jahren, mit ihnen nach England gekommen. Der Padrone hatte das Gefühl gehabt, ihre Anwesenheit könnte einen zurückhaltenden Einfluß auf seinen eigenwilligen, unsteten Sohn haben. Aber Savarone kannte seine Schwiegertochter noch nicht genügend; das sollte erst später erfolgen. Die berauschende Atmosphäre von Mayfair auf dem Höhepunkt der Saison zog sie in ihren Bann.
Seine Frau fühlte sich zu Spane hingezogen; sie oder er verführte ihn oder sie. Er hatte der Affäre keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet, er war während der Zeit anderweitig beschäftigt gewesen.
Doch irgendwann war es zu einer unangenehmen Konfrontation gekommen. Mit Mrs. Spane. Vorwürfe waren hin und her geflogen, und die zornigen blauen Augen hatten ihn angestarrt.
Vittorio ging quer durch die Lobby auf den Sessel zu. Mrs. Spane blickte auf, als er sich ihr näherte. In ihren Augen war ein kurzes Zögern, als wäre sie nicht sicher. Und dann war sie sicher, und da war überhaupt kein Zögern mehr. Der Abscheu, an den er sich so lebhaft erinnerte, trat an die Stelle des Zögerns. Ihre Augen begegneten sich eine Sekunde lang - nicht länger -, und sie wandte sich wieder ihrer Zeitung zu.
»Mrs. Spane?«
Sie blickte auf. »Mein Name ist Holcroft.«
»Wir sind uns begegnet.«
»Ja. Sie heißen Fontini... « Sie hielt inne.
»Fontini-Cristi. Vittorio Fontini-Cristi.«
»Ja. Das liegt lange zurück. Sie werden mir verzeihen, aber ich hatte einen schweren Tag. Ich warte auf jemanden und habe sonst keine Gelegenheit mehr, die Zeitung zu lesen.« Sie wandte sich wieder ihrer Lektüre zu.
Vittorio lächelte. »Sie entlassen mich sehr geschickt.«
»Das fällt mir leicht«, erwiderte sie, ohne ihn anzusehen.
»Mrs. Holcroft, das war vor langer Zeit. Der englische Dichter sagt, daß nichts dem Wandel so bekommt wie die Jahre.«
»Der englische Dichter behauptet auch, daß der Leopard seine Flecken nicht ändert. Ich bin wirklich sehr beschäftigt. Guten Tag.«
Vittorio wollte ihr schon zunicken, als er sah, daß
Weitere Kostenlose Bücher