1980 Die Ibiza-Spur (SM)
eigentlich auf die Idee gekommen, meiner Mutter den Abschiedsbrief zu schreiben?«
»Meine Frau und ich.«
»Deine Frau ist Julia Potter, nicht wahr?«
»Ja. Julia Hentschel, geborene Potter.«
»Hast du Kinder?«
»Einen Sohn und eine Tochter.«
Wieder drängte sich Klaus Hemmerich der Gedanke an das Pokerspiel auf. Was er eben gehört hatte, verbesserte sein Blatt erheblich. Es wird, dachte er, auf der Gegenseite also nicht nur um den Sohn gehen, sondern auch um den Ehemann und den Vater zweier Kinder. Er fragte: »Liegt dir denn gar nichts daran, deine Kinder wiederzusehen?«
»Es geht nicht um mich«, antwortete Javier.
»Okay. Es war also Julias und deine Idee, den Brief an meine Mutter zu schicken. Wer hat ihn verfaßt?«
»Mein Vater.«
»Wozu überhaupt so ein Brief?«
»Um Zeit zu gewinnen. Und vor allem, um Nachforschungen zu verhindern.« Und dann sagte Javier: »Ich möchte dich auch etwas fragen.«
»Bitte.«
»Wie seid ihr dahintergekommen, daß der Abschiedsbrief nicht echt war?«
»Das ist endlich mal eine vernünftige Äußerung von dir. Es war ganz unvermeidlich, daß wir dahinterkamen, und weißt du, wieso? Weil wir nämlich eine intakte Familie sind, in der jeder jeden liebt und ihn auch genau kennt. Da kann nicht einfach einer von draußen kommen und uns einen Bären aufbinden. Du könntest mir jetzt ein Dutzend Dinge aufzählen, die mein Bruder ausgeheckt haben soll, verrückte, absurde, ungeheuerliche oder auch nur überraschende, jedenfalls irgendwas Außergewöhnliches, zum Beispiel das Verfassen eines solchen Briefes, und ich würde dir genau sagen können, was davon möglich und was mit Sicherheit erfunden ist. Und umgekehrt war’s genauso. Auch mein Bruder weiß, wozu ich fähig bin und wozu nicht. Und genauso unsere Mutter. Wir sind eine kleine und intakte Familie. Es hört sich für dich, der die ganze westliche Welt verändern will, sicher sehr provinziell an, aber du mußt es nun mal schlucken. Es gibt nichts Schöneres als den Zusammenhalt in der Familie. Und es gibt auch nichts, was wichtiger wäre. Eine solche Familie sind wir nun mal, und da haben Leute wie ihr es verdammt schwer, einem von uns etwas zu tun, ohne daß die anderen dahinterkommen und dann zurückschlagen. So sieht es aus. In eurer Familie scheinen andere Grundsätze das Zusammenleben zu bestimmen. Ich hoffe, sie sind nicht so extrem, daß der Vater bereit ist, um einer Idee willen das Leben seines Sohnes zu opfern! Morgen früh werden wir sehen, wie der Handel läuft. Ob er überhaupt läuft. Hoffentlich bleibt es mir erspart, dich zu töten.«
Hemmerich verließ das Zimmer. Er sah noch kurz nach seinem anderen Gefangenen und ging dann vors Haus, wartete auf Jupp Maschkes Rückkehr.
XXXIII.
Im MONTESOL herrschte schon morgens um zehn Uhr ein reges Treiben. Touristen waren beim Frühstücken, Geschäftsleute nahmen ihren Aperitif oder einen Espresso, und an der langen Theke schepperten sogar schon die Würfel.
Die im Freien, auf dem breiten Bürgersteig des Paseo Vara de Rey stehenden Tische waren besetzt. Hemmerich und Maschke, die ihr Taxi verlassen hatten, drängten sich an den Gästen vorbei, gingen ins Café hinein. Dort war es nicht ganz so voll wie auf dem Boulevard. Guillermo Hentschel und Julia Potter saßen an einem Ecktisch einander gegenüber. Hemmerich und Maschke setzten sich auf die beiden freien Plätze, so daß keiner der vier seinen Partner neben sich hatte. Das war nicht ausgemacht; es ergab sich so.
Der Kellner brachte Julia Potter eine Tasse Kaffee, Hentschel einen Cognac, und dann fragte er die beiden Hinzugekommenen nach ihren Wünschen.
»Einen Scotch mit Eis«, sagte Maschke. Hemmerich bestellte einen doppelten Espresso.
Kurz vorher, im Taxi, hatten sie ihre Strategie noch einmal erörtert und beschlossen, sich auf keinen Fall in die Defensive drängen zu lassen. So ergriff Maschke, sobald der Kellner ihnen den Rücken zugekehrt hatte, das Wort: »Wir warten noch, bis unsere Getränke da sind, und dann reden wir über unser Vorhaben, möglichst leise, denn vielleicht sitzt jemand in der Nähe, der deutsch versteht.« Er wandte sich an Hentschels Begleiterin: »Sie sind, nehme ich an, Javiers Frau?«
»Ja. Und wer sind Sie?«
»Ich heiße Maschke und bin einer von drei Männern, die gestern auf die Insel gekommen sind, um unsere Freunde zu unterstützen. Und das ist …«, er zeigte auf Klaus, »der Bruder jenes Mannes, den Sie …«, er senkte die Stimme, »seit acht Wochen in Ihrer
Weitere Kostenlose Bücher