1980 Die Ibiza-Spur (SM)
über den abtrünnigen Bruder und Schwager geduldig anhören, ein bißchen Menschlichkeit heucheln, indem er uns seine Anteilnahme bekundet, und uns dann ein paar Lebensweisheiten auftischen, denen zufolge Victors Schritt ins Abseits so ungewöhnlich nun auch wieder nicht ist. Sicher hat er einige Beispiele von Aussteigern zur Hand. Vielleicht, wenn es hoch kommt, verspricht er sogar Hilfe, sagt uns eigene Nachforschungen zu. Wir müssen aber auch auf eine ganz andere Version gefaßt sein, daß er uns nämlich kurz und bündig erklärt, Victors letzter bekannter Aufenthalt sei zwar dieses Hotel gewesen, aber das mache ihn noch lange nicht zuständig. Vielleicht erklärt er uns klipp und klar, die privaten Lebensumstände seiner Gäste gingen ihn nichts an. Punktum.«
»Wir reden ja nur mit ihm, um danach mit den anderen reden zu können.«
»Das stimmt schon, aber was, wenn er gleich nach unserem Gespräch die Angestellten zusammentrommelt und sie zum Schweigen verdonnert? Dann laufen wir auf mit unserer Fragerei. Ich sehe übrigens sowieso keine große Chance bei Kellnern und Zimmermädchen. Ich kenne doch Victor! Eher würde er sich die Zunge abbeißen als seine Probleme mit dem Hotelpersonal besprechen. Du kennst ihn genausogut und weißt das also auch.«
»Natürlich. Doch nehmen wir einmal an, Hentschel impft seine Leute nicht. Und nehmen wir mal weiter an, Victor hat hier auf der Insel Kontakte gehabt, hat Telefonate geführt oder Besuch bekommen. Kellner und Zimmermädchen beobachten so manches, und so könnten unsere Fragen vielleicht doch etwas zutage fördern.«
»Eine ziemlich dürftige Hoffnung, finde ich. Du mußt real bleiben, Klaus! Hotelangestellte, die es in ihrem Beruf jahrein, jahraus mit wechselnden Gesichtern zu tun haben, werden sich doch nicht daran erinnern, welcher Gast vor zwei Monaten welchen Besuch gehabt hat!«
»Mag sein. Trotzdem sollten wir’s versuchen. Es könnte zum Beispiel sein, daß damals jemand, na, sagen wir mal, einen halben Tag lang in der Halle auf Victor gewartet hat, weil er ihn unbedingt sprechen mußte. Vielleicht hat sich dieser Jemand ins Restaurant gesetzt oder auf die Terrasse und ist drei-, viermal von seinem Platz aufgestanden und an die Rezeption gegangen, um zu fragen, ob Victor inzwischen gekommen sei oder angerufen habe. So etwas fällt auf, und an so etwas erinnert man sich dann auch. Vielleicht ist der Mann schließlich gegangen, hat aber Namen und Adresse hinterlassen. Klar, diese Notiz existiert heute nicht mehr, aber vielleicht sagt uns der Angestellte an der Rezeption – vorausgesetzt es handelt sich nicht gerade um diesen Javier –, daß es eine Adresse in Santa Eulalia oder in San Antonio war oder daß der Besucher rotes Haar hatte oder am Stock ging. Verstehst du? Ganz generell kann es um Victor herum etwas gegeben haben, was anderen auffiel, und dann will ich das erfahren! Vielleicht hat er mit jemandem hier gegessen, und der Kellner hatte das Pech, dem Ärmsten eine Terrine Fischsuppe über die Beine zu kippen. Könnte doch sein. Und dann ist dieser Kellner geflogen, und vielleicht serviert er jetzt den Kaffee im MONTESOL. Vielleicht hat er uns gestern abend den Espresso und die Mandeln gebracht. Und natürlich würde er sich an den Mann erinnern, der, was weiß ich, vielleicht sogar erst mal eine von Victors Hosen kriegte, während seine eigene, fischsuppentriefende, zur Schnellreinigung gebracht wurde. Okay, Christiane, ich weiß natürlich, daß es so nicht war. Ganz bestimmt war es nicht so. Und ebensowenig hat da jemand einen halben Tag lang auf Victor gewartet. Aber etwas anderes Auffälliges kann es gegeben haben. Irgendwas! Etwas, woran sich jemand erinnert. Wie oft stößt ein Rechercheur, ob er nun Polizist ist oder Reporter oder auch nur ein ganz simpler privater Nachfrager, plötzlich auf irgendwas Verrücktes, das gerade deshalb, weil’s verrückt ist, nicht vergessen wurde. Natürlich glaube auch ich, daß es so kommt, wie du sagst. Daß von fünf Befragten fünf antworten: ›Cómo? Wie bitte? Anfang März, sagen Sie? No me recuerdo. Ich erinnere mich nicht. Bedenken Sie doch, so viele Gäste! Wie hieß der Herr? Señor Emmeritsch? Nie gehört, diesen Namen.‹ Und dabei geht’s nicht mal um diesen Señor Emmeritsch, der hier Gast war, sondern um Leute, die ihn eventuell besucht haben. Wirklich, das sind die Antworten, mit denen ich rechne. Aber wenn, Christiane! Wenn sich nur einer an irgendeine Auffälligkeit erinnern
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