1988 VX (SM)
durften sie es riskieren, dem verseuchten Schiff nahezukommen? Sie stoppten die Maschinen, waren noch unschlüssig. Doch dann kündigten die Rettungsstationen an Land die Durchführung von Hilfsmaßnahmen an. Per Funk wiesen sie alle Schiffsführer an, ihren ursprünglichen Kurs wieder aufzunehmen. Noch vor elf Uhr startete eine Hubschrauberstaffel mit voll ausgerüsteten Rettungskommandos. Da fehlte es weder an Ärzten noch an Sanitätern, weder an Schutzanzügen noch an Spezialmasken, und was darüber hinaus notwendig war, führten sie ebenfalls mit.
Auch auf dem Schiff versuchte man, der Lage Herr zu werden. Über Lautsprecher trug einer der beiden Batteriechefs Bendixen und Pahlke auf, nach dem Entstehungsherd der Giftwolke zu suchen. Er erklärte, daß möglicherweise nichts gefunden werden könnte, sofern nämlich die Granaten detoniert seien. Da jedoch, fuhr er fort, niemand eine Explosion gehört habe, bestehe Grund zu der Annahme, daß die Quelle weiterhin existiere und ihr Gas verströme. Es könne sich dabei um Geschosse handeln, um Feuerlöscher, um Kanister, Minen, Handgranaten, Konservendosen, ja, eigentlich kämen alle nur denkbaren festen Behälter in Betracht, sogar präparierte Thermoskannen. Bei Auffindung eines verdächtigen Gegenstandes sollten sie versuchen, die Öffnung abzudichten, ihn andernfalls über Bord werfen. Die beiden machten sich sofort auf die Suche.
An Oberdeck herrschte mittlerweile eine gewisse Ordnung. Die meisten Soldaten und auch einige Besatzungsmitglieder hatten sich auf das Vorschiff geflüchtet. Einige Männer waren ins Wasser gesprungen und trieben in ihren Rettungsringen im Umfeld der ALBATROS. Inzwischen hatte man auch weitere Boote zu Wasser gelassen, sorgte jetzt aber dafür, daß sie nicht ins Kielwasser der Fähre gerieten.
Etwa zwei Dutzend Soldaten hatten sich auf die Brücke begeben, denn eine der zahlreichen über Lautsprecher mitgeteilten Informationen hatte gelautet, der ausströmende Kampfstoff sei ein kriechendes Gift, das sich bei ruhiger Luftlage am Boden halte.
Den besten Platz aber hatten immer noch Oberleutnant Stapelfeld und Fahnenjunker Jöns. Man hätte sie für Gallionsfiguren halten können, so weit vorgebeugt standen sie da. Was sie einatmeten, war unbelastete Seeluft. »Danke!« sagte Jöns. »Hast mir das Leben gerettet! Wie kamst du bloß darauf, daß es das VX sein könnte?« »Nach den vielen Meldungen der letzten Tage war mir das klar, sobald ich Ruhnke zu Gesicht gekriegt hatte.«
»Und die Toten im Wasser? Vergiften die jetzt nicht die Ostsee?«
»Nein. Man kann ja auch nicht ein ganzes Meer mit einer Handvoll Würfelzucker süßen. Außerdem ist bekannt, daß Hunderte, wenn nicht Tausende von Giftgasgranaten aus dem Zweiten Weltkrieg auf dem Grund der Ostsee liegen. Dagegen ist das Gift von ein paar Toten gar nichts.«
»Was für ein Wahnsinn, so was überhaupt herzustellen! Und es tonnenweise zu lagern! Das Gift auf diesem Schiff stammt immerhin aus unserem eigenen Land! Wenn es da nicht gewesen wäre, hätte niemand es da wegholen können.«
»Stimmt, aber nun reden die Herren in Ost und West ja wenigstens miteinander. Vielleicht kommt sogar was da bei raus.«
Jöns sah auf die Boote, die sich langsam von der ALBATROS entfernten. »Es lief«, sagte er, »nicht gerade so, wie es eigentlich hätte laufen sollen. Dabei haben wir den ABC-Alarm bis zum Erbrechen geübt.«
»Die Reise«, antwortete Stapelfeld, »sollte ja auch mehr ein Vergnügen sein, eine Art Freizeiteinschub zwischen zwei Einsätzen. Da läßt man schon mal fünf gerade sein.« »Trotzdem. Das wird ein Nachspiel haben.«
»So sieht er eben manchmal aus, der berüchtigte Unterschied zwischen Übung und Ernstfall.«
Während der Reserveoffizier und der Fahnenjunker bei der Theorie waren, kümmerten sich der Stabsarzt Bendixen und der Sanitätsunteroffizier Pahlke um die Praxis. Ein erster prüfender Rundblick hatte ihnen gezeigt, daß Boden, Decke und die glatten Wände des Schiffsbauches kaum Gelegenheit boten, irgendwelche Gasbehälter versteckt anzubringen. In erster Linie kam also der Wagenpark in Betracht, und das verhieß eine zermürbende Suche. Jedes einzelne der aus Tausenden von Einzelteilen zusammengesetzten Fahrzeuge stellte ein wahres Labyrinth dar. Sie teilten sich die Arbeit auf, doch kaum hatten sie begonnen, da ging dem praktischer veranlagten Pahlke die Frage durch den Kopf, bei welcher Gelegenheit die
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