1988 VX (SM)
vierunddreißig Soldaten sowie drei Besatzungsmitglieder lägen im Krankenhaus, aber die Tatsache, daß das VX auf einem Schiff zum Entweichen gebracht worden sei, habe den Folgen des Anschlags eine natürliche Grenze gesetzt. Das Giftgas habe zwar auch Teile der holsteinischen Küste erreicht, doch seien die Werte so minimal gewesen, daß es für die Bevölkerung zu keiner Zeit eine Gefahr gegeben habe.
Neben dem Artikel stand, rot eingerahmt, der Aufruf an ihn. Er las:
»Das Bundeskriminalamt wendet sich mit diesem Appell an Frank Golombek, Inhaber eines Gestüts bei Wasloh, der – vermutlich, ohne es zu wissen – der TerrorOrganisation VITANOVA bei dem blutigen Anschlag auf das amerikanische Sondermunitions-Depot von Wasloh und somit indirekt auch bei dem Giftgas-Attentat auf das Fährschiff ALBATROS Hilfe geleistet hat.
Bis heute hat es durch den Überfall auf das Depot, die Vorgeschichte eingerechnet, fünfundvierzig Todesopfer gegeben. Es steht zu befürchten, daß es in Kürze mindestens tausendmal soviel sein werden, denn in einem neuen Bekennerbrief haben die Terroristen mitgeteilt, daß der Anschlag auf die ALBATROS nur die Generalprobe war und daß sie die zweite erbeutete VX-Granate in einer westdeutschen Großstadt zünden wollen. Wir wissen, Frank Golombek, daß Sie sich von der Gruppe getrennt haben, und fordern Sie dringend auf, sich unverzüglich mit uns in Verbindung zu setzen! Wo Sie sich auch aufhalten mögen, melden Sie sich! Wir holen Sie ab von jedem Platz der Welt.
Natürlich können wir Ihnen keine Straffreiheit zusichern, aber sollten Sie in der Annahme, Sie dienten einer Friedensinitiative, lediglich Ihr Gelände zur Verfügung gestellt haben, so wird dieser Umstand in dem gegen Sie zu führenden Prozeß Berücksichtigung finden.
Bitte, tragen Sie dazu bei, eine der größten Katastrophen, die je unser Land bedroht haben, zu verhindern! Rufen Sie uns an!«
Unter dem Text standen die Adresse des Bundeskriminalamtes und drei Telefonnummern.
Er schloß die Zeitung, steckte sie ein, sah auf die Uhr. Seit zweieinhalb Stunden wußte er nun von diesem Appell. Katharina hatte, wie an jedem Tag seit ihrer Ankunft in Barcelona, die Zeitung besorgt. Auf der Bettkante sitzend, hatten sie gemeinsam die fettgedruckte an ihn gerichtete Botschaft gelesen, und dann hatte sie gefragt:
»Aber wieso glaubt man, daß du den zweiten Anschlag verhindern kannst? Weißt du mehr, als du mir erzählt hast?«
»Nein«, hatte er geantwortet, »da gibt es nichts. Sie überschätzen mich.«
Und dann hatte sie gesagt: »Vielleicht hat das BKA Fotos von den Mitgliedern der VITANOVA in seiner Verbrecherkartei, weiß es nur nicht. Man legt dir alle Fotos vor, die da sind, und du kannst sofort sagen: der und der und der! Frank, was willst du jetzt tun?«
»Ich werde über alles nachdenken«, hatte er geantwortet und war gegangen.
Er trank von seinem Espresso, der kalt geworden war. Wenn ich sie tatsächlich in der Kartei entdecke, dachte er, weiß das BKA vielleicht sogar, wo sie zu finden sind!
Wieder nahm er einen Schluck Kaffee, und dann malte er sich den zweiten Anschlag aus, hatte aus Filmen ein paar Beispiele zur Hand, sah Nadine, wie sie zum Bahnhof ging und ihren Koffer in ein Schließfach stellte. Sah Pierre, wie er, als Monteur verkleidet, in einer Schule einen Feuerlöscher auswechselte. Und Robert, wie er sein Päckchen in einer vollbesetzten Tennis- oder Eishockey-Halle deponierte und dann verschwand. Aber gleich darauf waren auch die anderen Bilder da, die ihn seit seiner Flucht verfolgten: Er auf der Treppe des Bundeskriminalamtes! Er wußte gar nicht, ob es da überhaupt eine Treppe gab, setzte es einfach voraus, weil ihm auch dafür eine Filmszene das Vorbild lieferte. Da war es ebenfalls um einen wichtigen Zeugen gegangen. Man hatte den Mann tagelang sorgsam verwahrt, so daß niemand an ihn herankommen konnte. Und dann, im letzten Moment, wenige Augenblicke vor Beginn des Verhörs, traf ihn, obwohl er von Polizisten umringt war, die Kugel des Scharfschützen. Zwar wird man mich, dachte er, vielleicht nicht gerade über eine solche Außentreppe führen, aber innerhalb des Gebäudes gibt es mit Sicherheit auch Treppen. Und Korridore. Und Fahrstühle. Und da werden viele Menschen herumlaufen, die sich nicht alle gegenseitig kennen. Vielleicht karrt ein Bote seinen Aktenwagen über den Flur, und in Wirklichkeit ist es einer von Roberts Leuten. Wir gehen auf dem engen Flur aufeinander zu, und er riskiert alles!
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