1988 VX (SM)
sich nicht seiner Tränen. Auch nicht vor der Stewardeß. Er hatte ihr erklärt, er habe eine sehr traurige Nachricht erhalten und bitte darum, daß man ihn nicht behellige. Sie respektierte seinen Wunsch. Nur beim Start hatte sie ihm, da er weder auf das Leuchtzeichen noch auf die Durchsage reagierte, wortlos den Sicherheitsgurt angelegt.
Wie konnte es geschehen? Zwar hab’ ich ihr immer wieder gesagt, sie solle nicht ohne Sattel und Steigbügel losreiten, aber tief im Innern war ich überzeugt davon, daß sie recht hatte mit ihrer Vermutung, das Tier wüßte von ihrer Behinderung und verhielte sich entsprechend. Und nun? Ich kann es nicht begreifen! Was es zwischen ihrem ersten vorsichtigen Ausritt auf dem Pony Mustafa und heute, also zwanzig Jahre lang, noch nie gegeben hat, ist jetzt passiert: daß ein Tier mit ihr durchging. Wieso? Natürlich, Pferde sind Fluchttiere, seit sie von Bränden über die Steppe gejagt wurden; sie sind scheu und ängstlich, aber etwas Vertrautes kann sie nicht schrecken. In Kriegen gelingt es ja sogar, sie schußfest zu machen. Und den Weg zwischen Hof und Blockhaus hat Cara tausendmal zurückgelegt! Sie kennt da jedes Wegstück, jede Biegung, jeden Baum! Was also war es? Ich glaube, Katharina hat mir am Telefon einiges verschwiegen. Es muß etwas Unvorhergesehenes stattgefunden haben, eine Einwirkung von außen, denn sonst läuft Cara, mit Marianne auf dem Rücken, nicht plötzlich los, so wild, daß das Kind seinen Halt verliert, durch die Luft wirbelt, gegen einen Baum prallt und sich das Genick bricht! Was war es?
Er wandte sich vom Fenster ab, sah durch die halb geöffneten Portieren den Gang entlang, sah eine der Stewardessen mit flinken Armbewegungen am Getränkewagen hantieren, und dieser Anblick trieb ihm erneut die Tränen ins Gesicht: Solche Arme hätten Cara natürlich zurückgehalten, hätten ihren stürmischen Lauf stoppen oder, wenn nicht das, zumindest ihren Hals umschlingen und damit den Halt der Reiterin sichern können, bis das Tier von selbst zur Ruhe gekommen wäre!
Nach etwa einer Flugstunde, irgendwo über den Pyrenäen, hielt er die Trauer nicht länger aus, wußte nicht mehr, wohin mit seinem Kopf, mit seinem Herzen, rief die Stewardeß, bat um einen Bourbon und kurz darauf um einen zweiten. Die junge blonde Frau trug eine weiße Bluse mit kurzen Ärmeln. Als sie ihm das zweite Glas hingestellt hatte, griff er nach ihrem leicht gebräunten Arm, hielt ihn fest. Sie sah in sein Gesicht und ließ es geschehen.
»Arme«, sagte er, »die braucht man nun mal! Sonst ist man schlecht dran.« Er holte seine Brieftasche hervor und hielt ihr eine Fotografie hin.
»Meine Tochter«, sagte er.
Es war sein Lieblingsbild. Marianne auf Cara. Es war jenes Bild, mit dem er im fernen Chile einen jungen Mann davon überzeugen wollte, daß Marianne trotz ihres Handicaps das Leben meistern konnte.
»Sehen Sie«, fuhr er fort, »sie hatte keine Arme. Und heute mittag ist das Pferd mit ihr durchgegangen. Ich weiß nicht, warum. Und nun ist sie tot …, ja, nun ist sie tot.«
Er weinte nicht mehr, steckte das Bild wieder ein. »Eigentlich«, sagte er dann, »wollte ich nach Chile, aber vorhin, in Madrid, kam der Anruf, und so mußte ich umkehren.«
»Wollen Sie … vielleicht ein Mittel zur Beruhigung? Wir haben Tabletten, die …«
»Nein danke.« Er trank sein Glas leer. »Aber ich möchte noch einen Bourbon.«
»Sofort.«
10.
Er nahm seinen Koffer vom Transportband und dachte daran, daß sie sich gleich in den Armen liegen würden, minutenlang, jeder zugleich Haltsuchender und Haltgebender. Er ging an den Zollbeamten vorbei, setzte Koffer und Tasche ab und hielt Ausschau. Aber er fand Katharina nicht.
Schließlich nahm er sein Gepäck auf, ging ein paar Schritte weiter, blieb erneut stehen und sah sich um. Wieder konnte er sie nirgendwo entdecken.
Also suchte er nun nach Joseph, den sie dann ja eigentlich geschickt haben mußte. Aber da wäre mir ein Taxi lieber, dachte er. Dann könnte ich wenigstens schweigen, weil vorn jemand säße, der nichts weis.
Doch es sollten an diesem Abend weder Katharina noch Joseph noch ein Taxifahrer werden. Er wollte gerade weitergehen, da stellte sich ihm ein Mann in den Weg.
»Entschuldigung, sind Sie Herr Golombek?«
»Ja. Ist etwas mit meiner Frau?«
»Nein, nein! Sie ist zu Haus, und es geht ihr, den Umständen nach, gut.« Der Mann zog einen Ausweis aus seiner Jackentasche, ein kleines, in durchsichtiges Plastik eingeschweißtes
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