1991 Atlantik Transfer (SM)
Wo soll man da nach der Schuld suchen? Sie ist auf dem langen Weg von der Fabrik zum Schlachtfeld in lauter Einzelteile zerbröckelt.
Doch diesmal war der Weg ganz kurz. Die MELLUM ruft ihn, und er hat es in der Hand, die fünfundzwanzig Menschen vor dem Tod zu bewahren. Und er fährt einfach vorbei! Zwar tötet er nicht, aber er fällt, obwohl er es könnte, dem Tod nicht in den Arm!
Er fühlte sich elend, und so tat er das einzige, was ihm immer noch half, wenn die Skrupel kamen. Er flüchtete sich in seine Bilanz, griff also wieder einmal in die Schublade, suchte ein paar Unterlagen heraus, blätterte darin, schrieb. Die Zahlen waren gut, sogar besonders gut angesichts des unerwarteten Zuwachses von zehntausend Dollar. Und also war auch gut, was ungeschrieben hinter diesen Zahlen stand: Er würde seine Schulden loswerden. Das war für ihn das Allerwichtigste. Wie seiner Vermutung nach Leuffen in der Bundesrepublik einen Scherbenhaufen hinterlassen hatte, so gab es auch, allerdings in viel kleinerem Maße, einen Nielsonschen Scherbenhaufen. Der lag an der Elbmündung in einem Ferienort, der Anfang der achtziger Jahre für mutige Investoren eine Goldgrube verheißen hatte. Der Platz bot nicht nur badelustigen Feriengästen einen vergnüglichen Aufenthalt, sondern – so sahen es jedenfalls Heinrich Nielson und sein dreißigjähriger Sohn Olaf – auch den Seglern. Die beiden beschlossen, ihr Geld zusammenzuwerfen, einen schon seit Jahren aufgegebenen Fischereihafen zu pachten, mit neuen Anlegebrücken zu versehen und dort eine kleine Flotte von Segelbooten zu stationieren, um sie an jene Freizeitkapitäne zu verchartern, denen es an eigenen Planken mangelte.
Sie stiegen groß ein in das Geschäft, kauften zwölf seetüchtige Boote, acht davon aus zweiter oder dritter Hand, und die vier restlichen baute ihnen eine Bremer Werft. Das ging in die Zahlen, aber schon der erste Sommer schien zu beweisen, daß sie eine gute Nase gehabt hatten. Ihre Boote waren ständig unterwegs und die dreihundert zusätzlich geschaffenen Liegeplätze meistens belegt. Durch den Anfangserfolg zu weiterer Initiative ermutigt, errichteten sie eine Bootstankstelle, eröffneten ein kleines Restaurant und vergrößerten ihr Sortiment an Artikeln für die Schiffsausrüstung. In der Hochsaison beschäftigten sie nicht weniger als acht Angestellte. Heinrich Nielsons großer Traum von der eigenen Flotte war – so sah es jedenfalls aus – Wirklichkeit geworden.
Er stammte aus einer alten Seefahrerfamilie der Insel Sylt. Fast alle Männer in seiner Ahnenreihe sowohl der väterlichen wie auch der mütterlichen Linie waren Kapitäne auf Großer Fahrt gewesen. Doch damit nicht genug. Sein Urgroßvater Manne Nielson und sein Großvater Rasmus Nielson hatten eigene Schiffe gehabt, und zwar nicht kleine Ewer, die im seichten Wattenmeer herumschipperten, sondern respektable Fahrzeuge – Großsegler zunächst, dann aber auch Dampfer –, die im Ostasiendienst fuhren. Jahrzehntelang gehörten die Nielsons zu den wohlhabendsten und damit auch zu den respektabelsten Familien der Insel. Doch dann führten Krieg und Inflation als allgemeine und nicht abwendbare Widrigkeiten und überdies eine familiäre Tragödie – Rasmus Nielson wurde schwermütig und nahm sich 1932 das Leben – zum Verlust der in Altona niedergelassenen Reederei.
So waren seine Vorfahren – vom Walfang und Robbenschlag in grönländischen Gewässern bis hin zur überseeischen Kauffahrtei – erfolgreich gewesen, und nicht selten hatte er als Abkömmling dieser einst so stolzen Friesenfamilie den heißen Wunsch verspürt, ihren verlorengegangenen Glanz zurückzuholen.
Gewiß, die kleine Flotte von Segelbooten war der Tonnage seiner Väter nicht vergleichbar, aber sie war ein Anfang.
Leider blieb sie auch einer. Kaum waren die ersten Jahre, in denen sie gute Gewinne gemacht hatten, verstrichen, da brachen gleich mehrere Katastrophen auf einmal über das junge, mit einer viel zu dünnen Finanzdecke gegründete Unternehmen herein. Algenpest, Robbensterben und die von Funk, Fernsehen und Presse immer wieder beschworene Degradierung der Nordsee zur Kloake Europas drohten ihnen das Geschäft kaputtzumachen. Noch blieben die Freizeitskipper nicht aus, denn die meisten von ihnen hatten für zwei oder sogar drei Jahre im voraus Mietverträge abgeschlossen, aber sie ließen durchblicken, daß sie bereits Ausschau hielten nach einer Alternative zu der, wie sie sagten, unappetitlich gewordenen
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