1991 Atlantik Transfer (SM)
Elbmündung. Und das war noch nicht alles! Heinrich Nielson, der um der kleinen Schiffe willen die Große Fahrt an den Nagel gehängt hatte, verfolgte mit wachsender Sorge die Gefahren, die vom Transport gefährlicher Güter ausgingen. Da kamen nicht nur die nach und ab Hamburg gehenden Schiffe in Betracht, sondern unweit seines Yachthafens begann oder endete, je nach eingeschlagener Richtung, die meistbefahrene künstliche Wasserstraße der Welt. Zwar war die statistische Unfallquote der Schiffe, die auf dieser fast hundert Kilometer langen Verbindungsstrecke zwischen Nord- und Ostsee fuhren, mit ihren 0,2 Prozent sehr gering, aber bei fast Sechsundsechzigtausend Schiffen, die jährlich den Kanal passierten, bekam diese minimale Bruchzahl dann doch wieder Gewicht. Die beiden Nielsons konnten die spektakulärsten Unfälle der letzten Jahre so sicher aufzählen wie die Küstenfriesen die Jahreszahlen ihrer großen Sturmfluten. Da war zum Beispiel der mit Ferrosilizium beladene niederländische Frachter MARIA, der in der Schleuse explodierte. Dann: der Zusammenstoß des DDR-Kühlschiffes HEINRICH HEINE mit der MATARAM, einem Indonesier, zwar nicht in der Schleuse, aber in der Zufahrt zur Schleuse. Bei dieser Kollision hatte ausgetretenes Öl ein Vogelschutzreservat vernichtet. Weiter: das Feuer auf der COMETA, die Ramming des Passagierdampfers PETER PAN gegen das Schleusenleitwerk, der Zusammenstoß des Fährschiffes BERLIN mit einem Kümo im Nebel und der Crash der CANABAL, eines Spaniers, am Schleusentor. Das alles waren keine kleinen Pannen, keine Bagatellfälle, sondern schwere Havarien, von denen so manche für das Umland zur Katastrophe hätte werden können. Ja, und dann kam die OOSTZEE mit ihren schlampig gestauten Epichlorhydrin-Fässern, die in einen Sturm geriet, so daß etliche der Behälter sich losrissen und leckschlugen. Einen ganzen Monat dauerte das Tauziehen um die komplizierte Entsorgung des Frachters, von dessen Besatzung einige Männer mit Vergiftungserscheinungen ins Krankenhaus eingeliefert werden mußten.
Mit einem Mal ging die Rechnung der beiden Nielsons nicht mehr auf. Ihre Boote, so schön und sicher sie waren, lagen am falschen Ort, und die roten Zahlen wurden größer statt kleiner.
Heinrich Nielson schämte sich vor seinem Sohn. Er konnte es nicht verwinden, daß er, der Ältere, Erfahrenere, den Jungen zu einem Geschäft überredet hatte, das sich vielleicht als ruinös erweisen würde. Um jeden Preis wollte er den definitiven Niedergang abwenden, und darum suchte er sich wieder ein Schiff, aber keins, dessen Führung ihm Monat für Monat nur die reguläre Kapitänsheuer einbrachte – das hätte die Karre nicht aus dem Dreck gezogen –, sondern eins, das ein beachtliches Stück Geld nebenher abwarf. So kam er an die CAPRICHO und betrieb mit ihr das monkey business. Und hatte die Rechtfertigung gleich zur Hand. Es war die eines Michael Kohlhaas oder eben die eines Mannes, der glaubte, zurückschlagen zu dürfen, selbst wenn die Richtung seiner Gegenwehr nicht stimmte. Tief in ihm steckte etwas von der undifferenzierten Moral der einfachen Leute. Er reagierte nicht ganz so plump wie einer seiner Sylter Vettern, dem man eine Baugenehmigung verweigert hatte und der daraufhin seiner Entrüstung Luft machte: »… und überhaupt die in Kiel und in Bonn … und die Starfighter … und die Benzinpreise … und die Gesundheitsreform …«, so, als stünde das alles in ursächlichem Zusammenhang mit der Tatsache, daß er nicht bauen durfte, wo er bauen wollte. Aber eine gewisse Übereinstimmung mit derlei diffusen Schuldzuweisungen hatte Nielsons Einstellung doch, denn er sagte sich: Da gibt es Menschen, die die Gesetze mißachten und dadurch mein Projekt vielleicht zu Fall bringen. Also mißachte auch ich die Gesetze, damit ich wieder auf die Füße komme und den Bankrott abwende. Das ist mein gutes Recht.
So gingen in unregelmäßigen Abständen große Beträge an seine Bank in Rotterdam, und wenn es mit den Nebengeschäften weiterhin so gut lief, waren die zwölf Boote bald abbezahlt.
Olaf und er würden sie verkaufen und etwas ganz Neues beginnen, vielleicht einen Frachter erwerben, der für die Große Fahrt in Frage kam. Ja, und dann würde die Geschichte der Nielson-Kapitäne wieder ein gutes Kapitel aufzuweisen haben.
10
Seit drei Wochen versuchte Jacob Thaden, sich in der vertrauten Umgebung zurechtzufinden, doch immer wieder wurde gerade das Vertraute ein Ort der Ödnis für ihn,
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