1991 Atlantik Transfer (SM)
Jahr ihrer Ehe. Ein Spätnachmittag auf der Top-Etage. Das achtzehnte Stockwerk der EUROVIT-Zentrale im Herzen der City. Ein langer Gang. Auf dem Fußboden Marmor, an den Wänden Edelholz aus dem Libanon. Kühl und gespenstisch leer war dieser etwa dreißig Meter lange und sechs Meter breite Korridor, als handelte es sich hier oben nicht mehr um die Gefilde Sterblicher. Sie hatte den Lift verlassen und sich in einen der drei Sessel gesetzt, die auf halber Länge des Flurs standen und zur Tür ihres Mannes hin abgeschirmt waren durch ein in mächtigen Bodenvasen gezogenes Geflecht bis an die Decke reichender exotischer Pflanzen.
Sie wollte ihn abholen, ihn überraschen mit der Nachricht, daß endlich einmal auch sie einen Tisch fürs Abendessen bestellt habe, in einem Restaurant, das er gern besuchte, wollte aber nicht bis zu ihm vordringen, sondern das Ende seines Arbeitstages abwarten.
Die Tür zu seinem Büro befand sich am Ende des Korridors. Es gab noch weitere Türen, und zwar an den beiden Längsseiten.
Eine von ihnen öffnete sich, als etwa fünf Minuten verstrichen waren. Heraus trat eine junge blonde Frau mit einer blauen Akte in der Hand. Das Gesicht hatte sie so schnell nicht erkennen können, aber nun sah sie durch das Blattwerk der botanischen Wand die schlanke Gestalt von hinten, registrierte wohlgeformte Beine. Die Frau steuerte das Chefbüro an, und als sie davor stehenblieb, erwartete die unfreiwillige Beobachterin alles Erdenkliche, so etwa, daß die Gerufene noch rasch einen Blick in einen Taschenspiegel warf, ihr Haar ordnete, vielleicht den Sitz der Bluse korrigierte, ja, manches in dieser Art erwartete sie, aber bei Gott nicht das, was sie dann tatsächlich zu sehen bekam.
Die Blonde drehte sich um und warf einen raschen Blick den Flur entlang, vermutete offenbar niemanden hinter der grünen Barriere, legte den Ordner auf den Rand der rechts neben der Tür stehenden, mit Sand gefüllten Schale, richtete sich aber nicht gleich wieder auf, sondern nutzte das Gebücktsein noch für etwas anderes. Sie hob ihren Rock an, streifte mit wenigen flinken Bewegungen ihren Slip bis zu den Knöcheln herunter und gleich darauf – ruck-zuck, rechts-links – über die Schuhe, nahm den Ordner wieder auf, öffnete ihn und legte das winzige, hell schimmernde Dessous zwischen die blauen Pappdeckel. Dann erst klopfte sie, trat ein und zog die Tür hinter sich zu.
Es war alles so akrobatisch und schnell gegangen, daß die Wartende ein paar Sekunden brauchte, um das Ausmaß ihrer Beobachtung zu begreifen. Doch dann nützte alles ausweichende Deuteln nichts mehr. Sie war gerade Zeugin eines unerhörten Vorgangs geworden, natürlich nicht eines grundsätzlich unerhörten, aber doch insofern, als es ihr Mann war, dem dieser Ordner vorgelegt und dem gleichzeitig die Zugänglichkeit der Überbringerin angezeigt werden sollte. Da gab es nur zwei Lesarten, und beide fand sie bedrückend. Entweder hatte er die Frauen in seiner Firma, zu denen er sich physisch hingezogen fühlte, auf irgendeine Weise gefügig gemacht, oder er wurde von ihnen so eingeschätzt, daß frivole Offerten bei ihm verfingen! Sie erhob sich, ging auf seine Tür zu, streckte die Hand schon aus nach dem Griff, da empfand sie plötzlich, daß sie, wenn sie jetzt einträte, wohl doch nicht, wie ihr zunächst vorgeschwebt hatte, den triumphalen, sondern eher den beschämenden Part zu übernehmen hätte. Sie zog die Hand wieder zurück, kehrte um, verließ die Etage, verließ das Gebäude, ja, sie verließ die Stadt, um durch den Wald zu laufen und dabei Ordnung zu schaffen in ihrem aufgewühlten Innern. Und es gelang ihr sogar. Später aß sie in einem Forstgasthof zu Abend und fuhr erst gegen zehn Uhr nach Hause, wo ihr Mann sie mit Anzeichen aufrichtiger Besorgtheit erwartete. Sie erklärte ihm, sie habe eine Freundin getroffen, deren neues Haus besichtigt und darüber die Zeit vergessen, stellte ihn also nicht sofort zur Rede, sondern ließ die gemeinsame Stunde am Kamin ganz normal anlaufen. Erst als er im Zusammenhang mit einem Ressortleiter, der jede Konferenz durch viel zu lange Beiträge unnötig auszudehnen pflegte, mal wieder verkündete, daß Zeit schließlich Geld sei, erwiderte sie, mit dieser strapazierten Formel solle man es nicht übertreiben. So müsse beispielsweise eine Sekretärin, nur um für ihren Chef zweieinhalb Sekunden einzusparen, sich nicht unbedingt schon vor seiner Tür ihres Höschens entledigen; immerhin entzöge sie
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