1991 Atlantik Transfer (SM)
in sich das Verlangen, immer wieder jenen Ort vor Augen zu haben, an dem diese Gemeinschaft ihre letzten glücklichen Tage und Stunden gehabt hatte, und dieser Ort war nun mal das Meer, konnte aber auch ein Fluß sein, der zum Meer führte; wichtig war allein, daß es da Schiffe gab. Gewiß, es war das Meer gewesen, in dem Sigrid und Arndt den Tod gefunden hatten, aber die Schuld daran trug aller Wahrscheinlichkeit nach ein Mensch, der diesen Tod herbeigeführt hatte, indem er ihn einfach in Kauf nahm.
Ihm ging ein Satz durch den Kopf, der das moderne Zusammenleben von Menschen treffend beschrieb: Mit Behinderungen muß gerechnet werden. Diese lapidare Feststellung, hundertfach vernommen in den täglichen Verkehrsdurchsagen der Rundfunksender und bezogen auf vorübergehende lokale Beeinträchtigungen, ließ sich, wie er fand, als Lebensformel unserer Zeit verwenden. Natürlich, gemeint war eine Straßenbaustelle, an der sich die Autofahrer mühsam vorbeizudrücken hatten.
Oder eine Ölspur, die jemand hinterlassen hatte und die den Nachfolgenden zum Verhängnis werden konnte. Vielleicht auch hatte ein Orkan dicke Äste auf die Straße geschleudert, oder es gab andere von der Witterung geschaffene Erschwernisse wie Überschwemmungen, Schnee, Glatteis, Nebel. Aber, dachte er, während auf dem Fluß unter ihm gerade zwei Schiffe aneinander vorbeifuhren, diese fünf Wörter Mit Behinderungen muß gerechnet werden gelten auch für Beeinträchtigungen von ganz anderer Dimension! Zum Beispiel, wenn ein Kraftwerk im Ruhrgebiet seine Gifte in den Himmel jagt und daraufhin, weil nun mal auch der Wind zu unserem Leben gehört, im Harz die Bäume sterben. Oder wenn die Fabriken ihren Chemiemüll in die Gewässer leiten und danach die Fische mit Geschwüren geschlagen sind und die Fischer sich einen anderen Beruf suchen müssen. Oder wenn der törichte Ehrgeiz von Luftschau-Veranstaltern dazu führt, daß eine Maschine in die Zuschauermenge rast und Männer, Frauen und Kinder zersäbelt oder verbrennt.
Er mußte an seinen Vater denken, der einmal gesagt hatte.
»Wer einen Garten hat, muß darauf achten, daß seine Bäume nicht zu hoch werden, damit sie, wenn sie ihn mit ihrem Grün erfreuen, nicht zugleich mit ihrem Schatten den Nachbarn ärgern.«
Vater hat recht, dachte er; es geht immer wieder um die Einhaltung von Spielregeln. Das Gesetz kennt, glaub’ ich, zwar noch den einschränkenden Begriff der Zumutbarkeit, aber was ist zumutbar? Ich kann meinen Nachbarn nicht zwingen, doch – bitte schön! – auf das Grün meiner Bäume zu achten und nicht auf deren Schatten. Rücksichtnahme ist alles, im Kleinen wie im Großen. Wenn ich ein Bangladesch-Mann wäre und Bescheid wüßte über den fatalen Zusammenhang zwischen dem Kohlendioxid-Ausstoß der Fabriken in den Industrieländern und meinem wildgewordenen Fluß, also keinen Zweifel daran hätte, daß meine Familie und tausend Menschen mehr nur deshalb ertrinken mußten, weil andere ihr Wohlleben nicht einschränken wollen, ja, ich glaube, dann würde ich mich auf den Weg machen, um die Schuldigen aufzuspüren. Und wenn man mich nicht einließe, würde ich in der Nacht heimlich wiederkommen, über den Zaun klettern und versuchen, wenigstens einen ihrer Giftöfen kaputtzumachen …
Er kehrte zu seiner eigenen Katastrophe zurück. War es das Wohlleben, das Nielson – oder wer es denn auch gewesen war – im Auge hatte, als er an der MELLUM vorbeifuhr und damit meine Frau und meinen Sohn und Baumann und Wilson und Mahrani und all die anderen dem Tod überantwortete? Zwar hat er die Rettung nicht behindert, aber er hat sie verhindert und damit auf jeden Fall Regeln außer acht gelassen, die zu befolgen seine Pflicht gewesen wäre.
Er hatte einen Käse-Toast gegessen, bestellte sich jetzt einen Kaffee. Wenn er ohnehin die halbe Nacht nicht schlafen konnte, spielte es keine Rolle, ob das mit oder ohne Kaffee geschah.
Herrlich waren sie, dachte er, unsere Atlantik-Tage in den tropischen Breiten! Jeden Morgen, jeden Mittag und jeden Abend ging’s in das kleine Schwimmbecken. Besonders Arndt konnte davon gar nicht genug bekommen. Immer wieder sprang er vom eisernen Geländer hinunter in das glasklare Wasser, das von den Schiffsbewegungen hin und her geworfen wurde, aber infolge seiner Trägheit den Rhythmus des Wiegens nicht einhielt, so daß Gegenschläge und Turbulenzen entstanden. Ich sagte zu ihm, auch ein so kleines Wasser könne gefährlich sein, und seine Antwort war: »Mir
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