1991 Atlantik Transfer (SM)
zum Essen war er mit der Zeitungslektüre beschäftigt. Danach nahm er sie nicht wieder auf, sondern ging noch einmal seinen Plan durch, der – übers Ganze gesehen – schon fast ein Jahr alt war und dessen vierter und vorletzter Teil nun in die Tat umgesetzt werden sollte. Bereits im Oktober des vergangenen Jahres hatte er eine Fünf-Stufen-Strategie entwickelt, die für sein Überwechseln in das andere Leben ein Höchstmaß an Absicherung bot. Die Drohbriefe, das Untertauchen, das Feuer, der Tod und die Korrektur, das waren die Stationen, die es zu durchlaufen galt und von denen er bereits drei als erledigt abgehakt hatte. Alle fünf waren in rekonstruierbarer Folgerichtigkeit aufeinander abgestimmt: Aufgrund der Drohbriefe taucht er unter, und die Rächer suchen nach ihm. Die Brandstiftung entspricht dem Inhalt der Drohbriefe, stellt aber erst einen Teilerfolg seiner Gegner dar. Sein Tod ist für sie die Krönung, und danach wird es still werden um Ernst Pohlmann. Einen Toten kann man nicht mehr zur Rechenschaft ziehen. Die Nummer fünf seines Plans erschien ihm als besonders raffiniert ersonnen, denn er wußte genau: Wie sorgfältig auch immer er seinen eigenen Tod durch Unglück in Szene setzte, angesichts der Vorgeschichte würden ein paar Leute übrigbleiben, die trotz des überzeugenden Beweismaterials ein listig berechnetes Täuschungsmanöver nicht ausschlossen. Denen galt die Nummer fünf. Sie würde ihnen die Chance bieten zu sagen: Seht ihr? Wir hatten doch recht! An diesem Tod stimmte was nicht. Aber ausgerechnet diese Leute sollten dann zu Opfern eines noch feiner ausgeklügelten Tricks werden, und danach würde man die Akte Pohlmann endgültig schließen.
Um halb fünf landete die Maschine der CONTINENTAL nach einem Dreistundenflug auf dem Flughafen von Cancún. Da er kein großes Gepäck hatte, brauchte er nicht am Förderband zu warten, sondern konnte gleich durch die kleine Halle nach draußen gehen und sich ein Taxi nehmen. In einem der Prospekte, die in seiner MUNDIAL-Agentur bereitlagen, hatte er sich das Luxushotel VILLAS PLAZA ausgesucht und telefonisch für vier Tage einen der am Strand gelegenen Bungalows gemietet.
Auf der Fahrt ins Hotel bestaunte er wieder, wie er es schon während des ersten Treffens mit Howard Foreman getan hatte, die bizarre geographische Beschaffenheit Cancúns. Der Ort bestand aus zwei Teilen, der auf dem Festland errichteten Stadt mit Geschäftshäusern, Banken, Verwaltungsgebäuden, Märkten, Schulen, Krankenhäusern, Büros und allem, was sonst noch zu einer urbanisierten Zone gehörte, und der vorgelagerten Insel, einem etwa fünfundzwanzig Kilometer langen und stellenweise nur wenige hundert Meter breiten Landstreifen, auf dem die Hotels standen und der an seinen beiden Endpunkten jeweils über eine Brücke zu erreichen war. Er hatte schon mehrfach gelesen, und der Taxifahrer bestätigte es ihm erneut, daß Cancún noch vor zwanzig Jahren ein winziges Fischerdorf gewesen war, selbst in Mexiko kaum bekannt, vom Rest der Welt gar nicht zu reden. Und dann hatte man herausgefunden, was sich aus dieser Nehrung, die an ihrer Vorderseite einen der schönsten weißen Karibikstrände und in ihrem Rücken die malerischen, von Mangrovengürteln gesäumten Lagunen besaß, machen ließe. Aus dem ärmlichen Fischerdorf wurde eine respektable Stadt und aus der Insel, die sich wie ein riesiger Krakenarm durchs Wasser wand, ein begehrtes Ferienparadies.
Eigentlich hätte die Fahrt vom Flughafen zum Hotel nicht durch die Stadt geführt, aber James Hamilton oder vielmehr Eberhard Leuffen, als der der Ankömmling hier in Erscheinung treten und seinen dramatischen Abgang von dieser Welt in Szene setzen wollte, legte es darauf an, dem Fahrer im Gedächtnis zu bleiben. So zog er den jungen Maya-Indianer immer wieder ins Gespräch, fragte ihn aus, ließ mehrmals anhalten, einmal sogar, um an einem Imbißstand ein Bier mit ihm zu trinken.
Obwohl es schon auf den Abend zuging und die Fenster des Autos heruntergekurbelt waren, litt er unter der Hitze, und überdies machte ihm die Perücke immer mehr zu schaffen. Die Temperatur war hier viel höher als in der Hauptstadt und in Tlaxcala, und das hatte nichts mit den Koordinaten zu tun, denn schließlich lag Cancún nördlicher als Mexico City, nein, was hier für das heiße Klima sorgte, war die tropische Niederung, das NullNiveau also; in der Hauptstadt und auch auf der Madrugada wäre es genauso heiß, wenn das Land dort nicht
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