1992 Das Theunissen-Testament (SM)
soll.«
»Er weiß Bescheid«, antwortete Olaf. »Auf unserer Fahrt nach Dänemark haben wir auch das besprochen. Feste Regel. Wer immer eine Zeit nennt, meint die seinige. Wie war denn sein Spanisch?«
»Beachtlich, wenn man bedenkt, daß er erst im letzten Jahr damit angefangen hat.«
Ernesto fragte: »Kann die Polizei nicht feststellen, woher der Anruf kam? Es gibt doch Fangschaltungen.«
»Nein, bei Auslandsgesprächen nicht«, sagte Federico.
»Und wenn die Polizei«, fragte Ernesto weiter, wandte sich diesmal aber nur an Olaf, »morgen von deinem Sohn
die Adresse der Firma ORDAZ & DOMINGO haben will?«
»Er kann sie ihr getrost geben, denn die Firma existiert. Daß man anschließend in Spanien nachforscht, ob die Offerte tatsächlich gemacht wurde, ist nicht anzunehmen, dann müßte man ja unseren gesamten Firmengesprächen nachgehen, und das sind an die hundert pro Woche.« Während der nächsten Stunden forschten sie bis in den späten Nachmittag hinein nach den Gutiérrez-Brüdern, diesmal bei den Behörden. Auch dort erfuhren sie nur, daß Carlos die Stadt schon vor vielen Jahren verlassen hatte und daß Hilario zwar immer mal wieder aufkreuzte, aber ebenfalls schon seit langem nicht mehr in Puerto Varas gemeldet war.
Auch in einigen Geschäften und Restaurants erkundigten sie sich und stießen dabei auf einen Mann, der Hilario gut gekannt hatte. Doch die gemeinsame Zeit lag weit zurück. Sie waren so um die Zwanzig gewesen und hatten Seite an Seite im Holz gearbeitet. Der Chilene erzählte ihnen ausführlich von dem Tag, an dem Hilario die beiden Finger verlor. Zum Roden der Urwaldriesen hatten Sprengarbeiten gehört. Meistens hatte Hilario sie übernommen, weil er davon viel verstand. Ja, und einmal sei er beim Hantieren mit den Drähten etwas unvorsichtig gewesen und da habe das Dynamit ihm zwei Finger abgerissen. Er selbst, so erzählte der Mann weiter, sei bald darauf nach Punta Arenas gezogen und erst vor vier Jahren in die Heimat zurückgekehrt. Hilario aber habe er nie mehr gesehen und auch nichts von ihm gehört.
Am Abend fuhren sie zu Umberto Flores’ Haus. Ein Mann in mittleren Jahren öffnete ihnen die Tür. Er wußte offenbar schon Bescheid, denn er empfing sie mit den Worten: »Sie möchten also über meine alten Freunde mit mir reden?«
Ja, man habe Carlos vor einiger Zeit kennengelernt und wolle ihn gern wiedersehen.
Ob es wohl recht sei, fragte er, wenn sie das Gespräch woanders führten, im Haus seien nun mal die Frau und die Kinder und die Großmutter, und die störten ja doch bloß.
Ob sie nicht lieber in einem Lokal …, er kenne da eine gemütliche Kneipe, nicht weit, fünf Minuten höchstens, da könne man ja einen Pisco … Also stiegen sie zu viert in den Jeep und landeten bei Agustín, einem Wirt, der, wie sie aus der Begrüßung schlossen, ihrem Umberto wohl schon so manches Glas vorgesetzt hatte. Es war ein sehr
kleines Lokal mit nur fünf Tischen. Einer davon stand in einer Nische, und den steuerte Umberto denn auch an. Sie setzten sich. Die Gläser und die Flasche mit dem aromatischen, ganz leicht nach Honig schmeckenden Schnaps
wurden gebracht, und dann lief es so, wie es schon bei José Bahamondes gelaufen war. Federico führte das Gespräch, und Ernesto übersetzte, aber jetzt geschah es immer häufiger, daß Olaf abwinkte, weil er die spanische Version verstanden hatte. Federico kam gleich mit der wichtigsten Frage heraus: »Wann haben Sie Carlos und Hilario zum letztenmal gesehen?«
Die Antwort war niederschmetternd: »Na, das mag wohl zwanzig Jahre her sein.« Auch jetzt brauchte Ernesto nicht zu übersetzen, und so sagte er nur, und zwar auf deutsch: »Verdammter Mist!« Die beiden anderen sagten das nicht, dachten es aber. Der Informationsabend, auf den sie so sehr gebaut hatten, schien beendet, noch ehe er richtig begonnen hatte. Umberto war in der kurzen Zeit bereits bei seinem zweiten Pisco angelangt. Er machte, fand Olaf, eigentlich gar nicht den Eindruck eines Schlitzohrs, das nur darauf aus war, gratis zu einem Rausch zu kommen. Im Gegenteil, mit seinem scharf geschnittenen, tiefbraunen Gesicht und seinen fröhlich dreinblickenden Augen sah er vertrauenswürdig aus. Er war mittelgroß, sehr schlank, hatte einen grauen Poncho an und darunter ein rotes Hemd. Auch der Schnurrbart, wie ihn fast alle Männer dieser Gegend trugen, fehlte nicht. Man konnte sich den Mann gut als Huaso, als chilenischen Cowboy,
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