1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)
und sagte:
»Lutz Beling hat von seinen Eltern einen Drachen gekriegt, ein Riesending, fast zwei Meter groß. Zusammen mit ein paar anderen aus unserer Klasse wollten wir ihn schon gestern steigen lassen, aber wegen Großvaters Beerdigung ging das nicht, und heute sind Belings an die Ostsee gefahren. Das tun sie ja fast jeden Sonntag. Darum wollten wir es morgen machen und dann auch Laufkatzen raufschicken zu dem Drachen.«
»Laufkatzen? So ein Unsinn! Laufkatzen sind Lastenträger, die braucht man auf dem Bau.«
»Aber Belings nennen das so. Man faltet ein Stück Papier zurecht, setzt es auf die Drachenschnur und schickt es nach oben. Die ersten paar Meter muß man mit der Hand nachschieben, aber von einer bestimmten Höhe an macht es der Wind. Die Papierscheibe läuft über die ganze lange Schnur bis rauf zum Drachen. Post raufschicken nennt man das auch. Man kann an die Papierscheibe sogar noch was dranhängen, eine kleine Glocke zum Beispiel. Die bimmelt während der ganzen Reise.«
Der Junge machte eine Pause, und dann wagte er es, dem Vater auch noch auf dessen Fachgebiet die Stirn zu bieten: »Und wenn die Papierscheibe eine Glocke nach oben transportiert, ist sie ja doch ein Lastenträger, also stimmt der Name Laufkatze.«
Hubert Dillinger setzte sich auf die Bettkante. Er wußte, wie Norbert die Stunden, die er mit seinen Schulfreunden
am Elbufer oder in den Marschwiesen verbrachte, genoß, und wie wichtig sie für ihn waren, doch diesmal mußte er sie ihm ausreden.
»Du weißt«, sagte er, »ich kann aus beruflichen Gründen jetzt nicht weg. Also wird Mami mit meiner Schwester reden. Ja, und weil mit einem schwierigen Gespräch zu rechnen ist, möchte ich gern, daß sie euch in der Nähe hat.«
»Okay, das seh’ ich ein. Aber wenn wir morgen fahren und Sonnabend zurückkommen, sind wir nur fünf Tage da unten. Ist das für Mami nicht viel zu anstrengend? Sie hat doch immer Probleme mit dem Klimawechsel. Und nun gleich zweimal in so kurzer Zeit! Ist ja auch eine ganz schöne Strecke bis da unten, ungefähr tausendfünfhundert Kilometer hin und zurück. Ich hab’s im Atlas nachgemessen.«
»Sag mal«, unterbrach Hubert Dillinger den Redefluß seines Sohnes, »du willst doch wohl nicht deinen Computer mitnehmen? Stell ihn wieder hin! Immerhin fahrt ihr mit der Bahn, und das heißt Kofferschleppen.«
Norbert machte ein mürrisches Gesicht, gehorchte aber, stellte das Gerät an seinen Platz zurück, packte statt dessen ein paar Würfelspiele ein, klemmte sie zwischen die Kleidungsstücke, die schon im Koffer waren.
»Papi, was kostet eigentlich eine Fahrkarte von Hamburg nach Freiburg und zurück?«
Die Antwort blieb dem Vater erspart, denn es klingelte an der Haustür.
»Pack inzwischen weiter!«
Er ging die Treppe hinunter, öffnete. Draußen stand der Eilbote und übergab ihm ein Päckchen.
Als er die Tür wieder geschlossen hatte, besah er sich den gefütterten, sehr kleinen weißen Umschlag. Die Adresse war mit Schreibmaschine geschrieben, ein Absender nicht genannt. Er befühlte die Sendung und ertastete einen harten Gegenstand. Es war wohl sein Instinkt, der ihn veranlaßte, mit dieser ungewöhnlichen Post – es war ja Sonntag – erst einmal in sein Arbeitszimmer zu gehen. Eilzustellung und fehlender Absender, das war nicht unbedingt ein Widerspruch, aber seltsam fand er diese Verbindung doch. Wer ein Juxpaket auf den Weg gibt, dachte er, mag auf die Angabe des Absenders verzichten, nur zahlt er nicht sieben Mark extra für den Eilboten. Darum wird es wohl kein Scherz sein. Was also dann? Er hielt sich die mit metallenen Klammern und zusätzlich mit Tesafilm verschlossene Tüte ans Ohr, schüttelte sie ein paarmal, vernahm ein ganz leises Klappern.
Eine Bombe wird’s schon nicht sein, dachte er und riß die Längsseite auf. Zum Vorschein kam eine TonbandKassette. Sie war unbeschriftet, und eine andere Mitteilung gab es auch nicht. Er griff nach dem Radiorecorder, der im Regal stand, setzte sich damit an den Schreibtisch, legte die Kassette ein. Nach wenigen Sekunden ertönte eine männliche Stimme, der man anmerkte, daß sie verfremdet worden war, vielleicht durch ein vor den Mund gehaltenes Tuch:
»Achtung, es folgt eine wichtige Nachricht für Angelika und Hubert Dillinger in Hamburg. Sie haben gestern unseren hochgeschätzten Gefährten Horst Fehrkamp beerdigt, Ihren Vater beziehungsweise Schwiegervater. Er starb von
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