1Q84: Buch 1&2
schweigsam, ihre Gesichter werden ausdruckslos, sie verfallen in völlige Teilnahmslosigkeit und kommen dann bald nicht mehr in die Schule. Der größte Teil der Vorreiter-Kinder zeigt in der gleichen Reihenfolge die gleichen Symptome. Die Lehrer sind deshalb sehr besorgt. Sie fragen sich, in welchem Zustand die Kinder sind, die abgeschottet in der Sekte leben und nicht zur Schule gehen. Ob sie wirklich ein normales gesundes Leben führen? Aber sie dürfen nicht nach den Kindern sehen, denn Außenstehenden ist der Zutritt zum Gelände verwehrt.«
Die gleichen Symptome wie bei Tsubasa, dachte Aomame. Sie spricht fast nicht, ist ausdruckslos und apathisch.
»Du hast den Verdacht, dass bei den Vorreitern eine Art Kindesmissbrauch stattfindet. Organisiert. Und dass das wahrscheinlich Vergewaltigungen einschließt«, sagte Ayumi.
»Aber die Polizei wird wahrscheinlich nichts unternehmen, solange es sich nur um die unbewiesene Vermutung einer einfachen Bürgerin handelt.«
»Stimmt, vor allem, weil viele bei der Polizei so lahm und verknöchert sind. Die Typen ganz oben haben nichts als ihre Karriere im Kopf. Ein paar sind vielleicht anders, aber dem Großteil geht es nur um ihre sichere Laufbahn. Ihr Lebensziel ist es, nach der Pensionierung in irgendeinem privaten Unternehmen einen lukrativen Posten zu ergattern. Also lassen sie von vornherein lieber die Finger von heiklen Fällen. Man könnte sie sich ja verbrennen. Wahrscheinlich essen die sogar ihre Pizza erst, wenn sie eiskalt ist. Wenn es ein Opfer gäbe, bei dem Spuren nachzuweisen sind und das eine klare Zeugenaussage vor Gericht machen könnte, sähe die Sache noch einmal anders aus. Aber das ist schwierig, oder?«
»Ja, wahrscheinlich«, sagte Aomame. »Jedenfalls danke ich dir. Deine Informationen sind sehr hilfreich für mich. Ich würde mich gern irgendwie revanchieren.«
»Mir genügt es, wenn wir beide mal wieder zusammen nach Roppongi gehen. Und einmal alle lästigen Dinge vergessen.«
»Machen wir.«
»Unbedingt«, sagte Ayumi. »Hast du übrigens Interesse an Fesselspielen?«
»Ich glaube nicht«, erwiderte Aomame. Fesselspiele?
»Ach, schade. Na ja«, sagte Ayumi ein wenig enttäuscht.
KAPITEL 22
Tengo
Die Zeit vergeht asymmetrisch
Tengo dachte über sein Gehirn nach. Darüber gab es eine Menge nachzudenken.
Die Größe des menschlichen Gehirns hatte sich in den letzten zweieinhalb Millionen Jahren ungefähr vervierfacht. Es machte zwar nur zwei Prozent des menschlichen Körpergewichts aus, doch dessen ungeachtet verbrauchte es ungefähr vierzig Prozent der gesamten Körperenergie (so hatte es in einem Buch gestanden, das er vor kurzem gelesen hatte). Was der Mensch durch das rasche Wachstum seines Gehirns erlangte, war die Möglichkeit, in Zeit und Raum zu denken.
DAS KONZEPT VON ZEIT UND RAUM .
Tengo wusste, dass die Zeit in asymmetrischer Form voranschritt. Die Zeit an sich war gleichförmig, aber sie verwandelte sich in etwas Asymmetrisches, wenn sie verbraucht wurde. Manchmal verging sie schrecklich schwer und langsam, ein anderes Mal wieder leicht und schnell. In manchen Fällen vertauschten sich Vorher und Nachher, schlimmstenfalls konnte die Zeit ganz verschwinden. Oder es wurde etwas hinzugefügt, das gar nicht da sein sollte. Wahrscheinlich ordnete der Mensch den Sinn seines Daseins, indem er eigenmächtig die Zeit regulierte. Anders ausgedrückt: Indem er die Zeit erfand, bewahrte er seine geistige Gesundheit. Zweifellos kann der Mensch es psychisch nicht ertragen, verronnene Zeit folgerichtig und gleichbleibend akzeptieren zu müssen. Ein solches Leben würde einer Folter gleichkommen, dachte Tengo.
Durch die Vergrößerung seines Gehirns gelangte der Mensch also zu einer Vorstellung von Zeit; zugleich jedoch eignete er sich eine Methode an, diese zu modifizieren und zu regulieren. Parallel zur objektiv unablässig verstreichenden Zeit erzeugte das menschliche Bewusstsein unablässig subjektiv geregelte Zeit. Das war keine geringe Leistung. Kein Wunder, dass das Gehirn vierzig Prozent der gesamten Körperenergie verbrauchte.
Tengo fragte sich oft, ob die Erinnerung, die er an die Zeit hatte, als er anderthalb oder höchstens zwei Jahre alt gewesen war, der Wahrheit entsprach. Hatte er die Szene, in der seine Mutter im Unterkleid den Mann, der nicht sein Vater war, an ihrer Brustwarze saugen ließ, wirklich mit eigenen Augen gesehen? Konnte ein Kleinkind in diesem Alter so genau unterscheiden? Konnte eine Szene sich ihm so
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