1Q84: Buch 1&2
deutlich und bis ins Detail einprägen? Oder handelte es sich nicht eher um eine gefälschte Erinnerung, die er sich später zurechtgebastelt hatte, um sich zu schützen?
Möglich wäre das. Vielleicht hatte Tengos Gehirn irgendwann unbewusst die Erinnerung an einen anderen Mann (der sein wirklicher Vater sein konnte) produziert, um zu beweisen, dass er nicht das leibliche Kind jenes Menschen war, der vorgab, sein Vater zu sein – ein Versuch, den »Menschen, der vorgab, sein Vater zu sein« aus dem engen Kreis der Blutsverwandtschaft auszuschließen. Vielleicht wollte er sich einen Fluchtweg aus seinem beschränkten, erstickenden Leben schaffen, indem er eine Mutter, die noch irgendwo am Leben war, und einen mutmaßlichen richtigen Vater erfand.
Dennoch haftete seiner Erinnerung etwas sehr Lebendiges, Realistisches an. Sie hatte eine Textur, sie hatte ein Gewicht, sie hatte einen Geruch, sogar Tiefenschärfe. Sie klammerte sich mit unglaublicher Zähigkeit an die Wände seines Bewusstseins, wie eine Auster an ein Schiffswrack. Sosehr er sich auch bemühte, sie abzuschütteln, sie fortzuspülen, er konnte sie sich einfach nicht aus dem Herzen reißen. Daher konnte er sich eigentlich nicht vorstellen, dass sie nur eine Fälschung war, die sein eigenes Bewusstsein geschaffen hatte. Für ein fiktives Gebilde war sie einfach zu real, zu massiv.
Also nahm er an, dass es sich um eine echte, tatsächliche Erinnerung handelte. Er war fast noch ein Baby gewesen und hatte sich beim Anblick dieser Szene sicher sehr gefürchtet. Ein fremder Mann saugte an der Brustwarze, die eigentlich ihm vorbehalten war. Jemand, der viel größer und stärker war als er. Außerdem schien seine Mutter ihn, wenn auch nur für diesen Augenblick, völlig vergessen zu haben. Tengo musste sich bis ins Innerste bedroht gefühlt haben. Vielleicht hatte sich das Bild ihm durch diese existentielle Angst so unauslöschlich eingebrannt.
Und in unvorhersehbaren Momenten erhob sich die Erinnerung an diese Furcht wieder in Tengo, brach wie ein Sturzbach über ihn herein und versetzte ihn in einen panikartigen Zustand. Die Panik sprach zu ihm und sorgte dafür, dass er sie nie vergaß: Wohin du auch gehst, was du auch tust, diesem Schwall wirst du nie entrinnen. Diese Erinnerung wird dein Leben bestimmen, es formen und dich deiner Bestimmung zuführen. Sosehr du auch dagegen ankämpfst, dieser Macht kannst du nicht entfliehen.
Tengo holte den Schlafanzug, den Fukaeri getragen hatte, aus der Waschmaschine, und als er sein Gesicht darin verbarg und gierig den Duft einsog, hatte er plötzlich das Gefühl, den Geruch seiner Mutter wahrzunehmen. Aber warum beschwor der Duft eines siebzehnjährigen Mädchens das Bild seiner verschwundenen Mutter in ihm herauf? Warum begegnete er ihm nicht woanders? Zum Beispiel an seiner Freundin?
Tengos Freundin war immerhin zehn Jahre älter als er, und sie hatte einen wohlgeformten vollen Busen. Er glich fast dem seiner Mutter, wie er ihn in seiner Erinnerung sah. Das weiße Unterkleid hatte auch ihr gut gestanden. Aber aus irgendeinem Grund suchte er in ihr nicht das Bild seiner Mutter. Auch der Duft ihres Körpers erregte kein diesbezügliches Interesse in ihm. Einmal wöchentlich stillte sie ihre Begierde an Tengo und konnte auch ihn (fast immer) sexuell befriedigen. Das war natürlich nicht unwichtig, aber darüber hinaus hatte die Beziehung der beiden kaum eine Bedeutung.
Sie bestimmte den größten Teil ihrer sexuellen Aktivitäten. Tengo tat, ohne sich viel dabei zu denken, das, was sie ihm zeigte. Er brauchte nicht zu entscheiden und auch nicht zu urteilen. Er musste nur zwei Anforderungen erfüllen. Sein Penis musste einsatzfähig sein, und das Timing seiner Ejakulation musste stimmen. Wenn sie sagte »Noch nicht. Halt noch ein bisschen durch«, hielt er sich gewissenhaft zurück. Wenn sie ihm dann ins Ohr flüsterte: »Jetzt, o ja, komm schnell«, ejakulierte er punktgenau und heftig. Dann lobte sie ihn. Streichelte seine Wangen und sagte: »Ach, Tengo, du bist wunderbar.« Das Streben nach Präzision lag ihm von Natur aus. Dazu gehörte auch, korrekte Punkte zu setzen und Formeln für die kürzeste Distanz zu entdecken.
Mit einer Frau zu schlafen, die jünger war als er, war wesentlich problematischer. Er musste von Anfang bis Ende alles bedenken und so vieles entscheiden. Tengo fühlte sich unwohl, wenn die ganze Verantwortung auf seinen Schultern lastete. Er kam sich dann vor wie der Kapitän eines kleinen
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