1Q84: Buch 1&2
etwas, dessen er sich selbst für gewöhnlich nicht bewusst war – vorbehaltlos zu durchschauen. Er war neutral, aber freundlich. Der unbeirrbare Blick dieses siebzehnjährigen Mädchens durchbrach die Defensive des Betrachters und weckte zugleich ein leichtes Unbehagen. Es war nur ein kleines Schwarz-Weiß-Foto, aber allein sein Anblick würde nicht wenige Menschen veranlassen, das Buch zu kaufen.
Einige Tage nach dem Erscheinen hatte Komatsu ihm zwei Exemplare von Die Puppe aus Luft geschickt, aber Tengo hatte noch nicht einmal hineingesehen. Zum ersten Mal war ein von ihm geschriebener Text in Buchform erschienen, aber er hatte keine Lust, darin zu lesen, nicht einmal flüchtig. Keine Freude wallte angesichts des fertigen Buches in ihm auf. Auch wenn es seine Sätze waren, so war es doch Fukaeris Geschichte, die darin erzählt wurde. Eine Geschichte, die sie geschaffen hatte. Seine bescheidene Rolle als Ghostwriter war längst beendet. Das künftige Schicksal des Werkes hatte mit Tengo von nun an nichts mehr zu tun. Zumindest sollte es nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er verstaute die beiden noch eingeschweißten Bücher an einer unauffälligen Stelle im Regal.
Nach der Nacht, die Fukaeri in seiner Wohnung verbracht hatte, floss Tengos Leben friedlich dahin, als sei nichts geschehen. Es regnete oft, was er jedoch kaum beachtete. Klimafragen rangierten auf Tengos Prioritätenliste ziemlich weit unten. Von Fukaeri hatte er nichts mehr gehört. Dass sie sich nicht meldete, hieß vermutlich, dass es keine nennenswerten Probleme gab.
Unterdessen arbeitete er weiter an seinem Roman. Daneben verfasste er mehrere kurze Auftragsarbeiten für Zeitschriften. Es waren leichte Texte ohne Namensnennung, die jeder hätte schreiben können, aber sie lenkten ihn ab und waren im Verhältnis zum Aufwand nicht schlecht bezahlt. Außerdem fuhr er wie immer dreimal in der Woche zu seiner Yobiko, um Mathematikunterricht zu erteilen. Um alles Belastende – hauptsächlich Die Puppe aus Luft und Fukaeri – zu vergessen, tauchte er wie auch schon früher tief in die Welt der Zahlen ein. Hatte er sie einmal betreten, änderte sich (mit einem leisen Knacken) der Schaltkreis seines Gehirns. Sein Mund begann eine andere Sprache zu sprechen, und sein Körper bediente sich anderer Muskeln. Ebenso wie der Klang seiner Stimme änderte sich auch sein Mienenspiel. Tengo mochte dieses Gefühl des vollständigen Wandels. Es war ein bisschen wie von einer Wohnung in eine andere zu ziehen oder von einem Paar Schuhe in ein anderes zu wechseln.
In der Welt der Zahlen fühlte er sich um einige Grad entspannter als im Alltagsleben oder beim Schreiben. Hier wurde er beredter. Zugleich hatte er allerdings das Gefühl, dort eine etwas provisorische Existenz zu sein. Er konnte nicht beurteilen, welches sein wahres Selbst war. Aber er konnte diesen Wechsel vollkommen natürlich und ohne ihn sich besonders bewusst zu machen vollziehen. Er wusste auch, dass dieser Wechsel mehr oder weniger notwendig für ihn war.
Als Mathematiklehrer hämmerte er von seinem Pult aus in die Köpfe der Schüler ein, wie begierig die Mathematik nach Logik trachtete. In ihrem Reich hatten Dinge, die man nicht beweisen konnte, keinerlei Bedeutung, und wenn man sie einmal beweisen konnte, lagen die Rätsel der Welt weich wie geöffnete Austern in den Händen des Menschen. Sein Vortrag war von ungewöhnlichem Eifer getragen, und die Schüler konnten gar nicht anders, als seinen beredten Erklärungen zu lauschen. Er vermittelte ihnen praktisch und einprägsam die Lösungsmöglichkeiten der mathematischen Aufgaben, während er ihnen zugleich auf brillante Weise den Zauber eröffnete, der sich in diesen Aufgaben verbarg. Wenn Tengo seinen Blick über die Klasse schweifen ließ, merkte er, dass einige siebzehn- und achtzehnjährige Mädchen ihn voller Bewunderung anstarrten. Seine Beredsamkeit war wie eine Art intellektuelles Vorspiel. Mit den mathematischen Funktionen streichelte er ihnen sanft den Rücken, mit den Lehrsätzen hauchte er ihnen warmen Atem ins Ohr. Doch seit er Fukaeri kannte, hatte Tengo kein sexuelles Interesse mehr an solchen jungen Mädchen. Er dachte nicht darüber nach, wie es wäre, den Duft ihrer Schlafanzüge einzuatmen.
Fukaeri ist ein ganz besonderes Wesen, dachte Tengo wieder einmal. Man kann sie nicht mit anderen Mädchen vergleichen. Sie hat ganz zweifellos eine besondere Bedeutung für mich. Sie ist – wie soll ich sagen – wie eine an mich
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