1Q84: Buch 1&2
Mensch hätte sich von Anfang an nicht in so eine Geschichte hineinziehen lassen.
»Und du hast gar keine Ahnung, wo sie geblieben sein könnte, Tengo?«
»Im Augenblick nicht.«
»Ach.« Komatsu seufzte. Seiner Stimme war eine gewisse Erschöpfung anzumerken. Dass Komatsu eine Schwäche zeigte, kam so gut wie nie vor. »Tut mir leid, dass ich dich mitten in der Nacht geweckt habe.«
»Schon gut. Ist doch selbstverständlich unter diesen Umständen«, sagte Tengo.
»Ich wollte dich nach Möglichkeit nicht in solche konkreten Schwierigkeiten hineinziehen. Du solltest ja nur den Text überarbeiten, und diese Aufgabe hast du bravourös gemeistert. Aber auf der Welt laufen die Dinge nie so, wie sie sollen. Und wie gesagt, wir sitzen in einem Boot und treiben im Wildwasser dahin.«
»Schicksalsgefährten«, steuerte Tengo mechanisch bei.
»Genau.«
»Aber, Herr Komatsu, wenn die Nachrichten über Fukaeris Verschwinden berichten, steigen die Verkaufszahlen von Die Puppe aus Luft doch bestimmt noch mehr?«
»Die sind hoch genug«, sagte Komatsu resigniert. »Mehr Werbung brauchen wir nicht. Ein Skandal bringt uns nur in Schwierigkeiten. Wir sind eher an dem Punkt angelangt, an dem wir nachdenken müssen, wie wir sicher an Land kommen.«
»Sicher an Land kommen«, sagte Tengo.
Komatsu gab einen Laut von sich, als würde er einen imaginären Kloß in seiner Kehle hinunterschlucken. Dann räusperte er sich leise. »Über diese Dinge werden wir eines Tages bei einem schönen Essen noch einmal in Ruhe reden. Wenn wir diesen ganzen Kram hinter uns haben. Gute Nacht, Tengo. Schlaf gut und fest.«
Mit diesen Worten legte Komatsu auf. Als habe er damit einen Fluch über Tengo verhängt, konnte dieser anschließend überhaupt nicht schlafen. Er war todmüde, aber an Schlaf war nicht zu denken.
Schlaf gut – dass ich nicht lache, dachte Tengo. Er setzte sich an den Küchentisch und versuchte zu arbeiten. Aber er brachte nichts zustande. Er nahm eine Flasche Whisky aus dem Schrank, schenkte sich ein Glas ein und trank ihn unverdünnt in kleinen Schlucken.
Vielleicht hatte Fukaeri die ihr zugewiesene Aufgabe als lebender Köder erfüllt, und die Vorreiter hatten sie entführt. Das schien Tengo nicht ausgeschlossen. Sie hatten das Haus in Shinanomachi beobachtet und Fukaeri, kaum war sie aufgetaucht, zu mehreren gepackt, in einen Wagen gezerrt und fortgebracht. Wenn man einen günstigen Moment abpasste und alles schnell ging, war das gar nicht so schwierig. Als Fukaeri gesagt hatte, es sei besser, nicht in das Haus in Shinanomachi zu gehen, hatte sie vielleicht schon so etwas geahnt.
Sowohl die Little People als auch die Puppe aus Luft existierten wirklich, hatte sie zu Tengo gesagt. Als die blinde Ziege gestorben war und Fukaeri für ihre Unachtsamkeit bestraft wurde, hatte sie die Little People kennengelernt. Jede Nacht hatte sie mit ihnen an der Puppe aus Luft gesponnen. Und das alles hatte für sie selbst große Bedeutung. Sie hatte diese Ereignisse in die Form einer Geschichte gebracht. Und Tengo hatte ihrer Geschichte die Form eines kurzen Romans gegeben. Mit anderen Worten die Form der Ware verändert. Und jetzt ging diese Ware weg wie warme Semmeln (um mit Komatsus Worten zu sprechen). Für die Vorreiter war das wahrscheinlich eine ziemlich ungünstige Entwicklung. Die Geschichte von den Little People und der Puppe aus Luft war vermutlich das bedeutende Geheimnis, das nicht nach außen dringen durfte. Deshalb hatten sie Fukaeri entführt, um zu verhindern, dass es weiter verbreitet wurde. Sie mussten sie mundtot machen. Auch wenn ihr Verschwinden den Argwohn der Öffentlichkeit hervorrufen würde und sie damit ein Risiko eingingen, konnten sie praktisch nur Gewalt anwenden.
Aber das waren selbstverständlich nicht mehr als Vermutungen, die einer soliden Grundlage entbehrten. Es war unmöglich, auch nur das Geringste davon zu beweisen. Würde irgendjemand Tengo Beachtung schenken, wenn er lauthals verkündete, dass die Little People und die Puppe aus Luft wirklich existierten? Außerdem wusste er ja selbst nicht, was »wirklich existieren« in diesem Zusammenhang konkret bedeutete.
Oder Fukaeri hatte sich einfach irgendwohin zurückgezogen, weil sie den Rummel um Die Puppe aus Luft satthatte. Auch das war natürlich denkbar. Fukaeris Verhalten war nicht vorhersehbar. Doch in diesem Fall hätte sie bestimmt eine Botschaft hinterlassen, damit der Professor und seine Tochter Azami sich keine Sorgen machten. Es gab
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