1Q84: Buch 1&2
nicht den geringsten Grund, warum sie das nicht getan haben sollte.
Aber wenn Fukaeri tatsächlich von der Sekte entführt worden war, war es auch für Tengo nicht schwer, sich vorzustellen, in welcher Gefahr sie schwebte. Vielleicht würde der Kontakt zu ihr einfach abbrechen, so wie es seinerzeit mit ihren Eltern geschehen war. Auch wenn die Verbindung zwischen Fukaeri und den Vorreitern bekannt würde (was nur noch eine Frage der Zeit war) und die Massenmedien eine Sensation daraus machten – wenn die Behörden nichts unternahmen, würde alles mit viel Lärm um nichts enden, weil für eine Entführung die konkreten Beweise fehlten. Und sie würde vielleicht für immer hinter den hohen Zäunen der Sekte eingesperrt bleiben. Oder es würde noch etwas viel Schlimmeres passieren. Ob Professor Ebisuno auch das in seinem Plan einkalkuliert hatte?
Tengo hätte ihn am liebsten angerufen und ihn gefragt. Aber inzwischen war es mitten in der Nacht. Er musste bis zum nächsten Tag warten.
Am nächsten Morgen wählte Tengo die Nummer, die er von Professor Ebisuno erhalten hatte. Aber sie war nicht vergeben. Es ertönte immer wieder nur die Bandnachricht »Kein Anschluss unter dieser Nummer. Bitte überprüfen Sie die gewählte Nummer und versuchen Sie es noch einmal«. Er wählte mehrmals neu, aber immer mit dem gleichen Ergebnis. Vielleicht hatten sie ihre Nummer wegen der Flut der Anrufe nach Fukaeris Debüt ändern lassen.
Danach passierte eine Woche lang nichts. Die Puppe aus Luft verkaufte sich weiterhin ausgezeichnet und stand unverändert auf den oberen Plätzen der Bestsellerlisten im ganzen Land. Niemand meldete sich mehr bei Tengo. Er hatte immer wieder in Komatsus Redaktion angerufen, aber Komatsu war nie da gewesen (was nicht außergewöhnlich war). Er hinterließ die Bitte um Rückruf, aber Komatsu rief ihn kein einziges Mal an (was ebenfalls nicht außergewöhnlich war). Tengo durchforstete jeden Tag die Zeitungen, entdeckte aber keinen Hinweis darauf, dass eine Fahndung nach Fukaeri eingeleitet worden wäre. Ob der Professor schließlich doch keine Vermisstenmeldung aufgegeben hatte? Oder ob die Polizei die offizielle Mitteilung an die Presse zurückhielt, um verdeckt nach Fukaeri zu fahnden? Oder den Fall als den eines von zu Hause ausgerissenen Teenagers nicht ernst nahm?
Tengo unterrichtete wie immer drei Tage in der Woche an der Yobiko, an den übrigen Tagen saß er am Schreibtisch und schrieb weiter an seinem Roman. Am Freitagnachmittag schlief er mit seiner Freundin. Doch zu keiner Zeit war er mit seinen Gefühlen ganz bei der Sache. Er verbrachte seine Tage angespannt und im Bewusstsein von etwas Ungewöhnlichem, wie ein Mensch, der versehentlich ein Stück von einer dicken Wolke verschluckt hat. Er verlor immer mehr den Appetit. Nachts wachte er plötzlich auf und konnte dann nicht mehr einschlafen. Die ganze Zeit musste er an Fukaeri denken. Wo war sie, und was tat sie gerade? Mit wem war sie zusammen? Was hatte sie zu erdulden? Er malte sich alles Mögliche aus. Jede dieser Vorstellungen hatte eine mehr oder weniger pessimistische Färbung. Und stets trug sie den enganliegenden dünnen Sommerpullover, der ihren Busen so vorteilhaft zur Geltung brachte. Ihr Bild nahm ihm schier den Atem und versetzte sein Herz noch heftiger in Aufruhr.
KAPITEL 23
Aomame
Nicht mehr als irgendein Anfang
Man könnte sagen, Aomame und Ayumi waren ein ideales Paar, um ein kleines, aber feines und sehr erotisches nächtliches Fest auf die Beine zu stellen. Ayumi war zierlich und lächelte viel, war weder schüchtern noch auf den Mund gefallen, und wenn sie einmal entschlossen war, konnte sie den meisten Dingen etwas Positives abgewinnen. Außerdem hatte sie einen gesunden Sinn für Humor. Verglichen mit ihr wirkte die drahtige, schlanke Aomame eher ausdruckslos und unzugänglich. Auch konnte sie bei der ersten Begegnung mit einem Mann nichts Liebenswürdiges über die Lippen bringen. Alles, was sie sagte, hatte einen leichten, aber doch wahrnehmbaren zynischen und aggressiven Beiklang. In ihren Augen glomm stets so etwas wie Missbilligung. Dennoch konnte die kühle Aura, mit der Aomame sich umgab, wenn sie es wollte, sehr anziehend auf Männer wirken. Es war etwas Ähnliches wie die sexuell stimulierenden Duftstoffe, die Tiere und Insekten nach Bedarf aussenden. Nichts, das sie mit Absicht oder Mühe erworben hatte. Wahrscheinlich war es angeboren. Oder sie hatte sich diesen Duft doch nachträglich in einer
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