1Q84: Buch 1&2
und dran zu fragen, wie viele Monde es denn gewesen seien. Aber sie hielt sich zurück. Es war zu gefährlich. Beim letzten Mal hatte Tamaru ihr viel von sich erzählt. Dass er als Waise aufgewachsen war und nicht einmal wusste, wie seine Eltern aussahen. Auch seine ursprüngliche Nationalität hatte er ihr verraten. Noch nie hatte er sich so lange mit ihr unterhalten. Dabei war er ein Mann, der kaum je etwas von sich preisgab. Offenbar hatte er sich Aomame anvertraut, weil er sie sympathisch fand. Andererseits war er Profi und darauf gedrillt, seine Ziele auf kürzestem Weg zu erreichen. Es war sicherer, nicht unnötig etwas auszuplaudern.
»Ich komme nach der Arbeit vorbei, so gegen sieben«, sagte sie.
»Gut«, sagte Tamaru. »Du hast bestimmt Hunger. Der Koch hat morgen frei, es gibt also kein richtiges Essen, aber wenn du möchtest, kann ich ein paar Sandwiches für dich vorbereiten.«
»Danke, das wäre nett«, sagte Aomame.
»Wir brauchen auch deinen Führerschein, deinen Pass und die Karte deiner Krankenversicherung. Bitte bring morgen alles mit. Dann hätte ich gern noch einen Nachschlüssel zu deiner Wohnung. Geht das?«
»Klar.«
»Und noch eins. Wegen der Sache von neulich möchte ich unter vier Augen mit dir sprechen. Nimm dir nach dem Gespräch mit Madame bitte noch etwas Zeit.«
»Wegen welcher Sache denn?«
Tamaru schwieg einen Moment. Sein Schweigen wog schwer wie ein Sandsack. »Du wolltest etwas Bestimmtes von mir. Schon vergessen?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Aomame hastig. Sie war mit ihren Gedanken beim Mond gewesen.
»Morgen um sieben«, sagte Tamaru und legte auf.
Auch in der folgenden Nacht hatte die Zahl der Monde sich nicht verändert. Aomame ging nach der Arbeit noch rasch unter die Dusche, und als sie das Sportstudio verließ, waren am östlichen Himmel, wo es noch hell war, zwei blass getönte Monde zu sehen. Aomame blieb auf der Fußgängerbrücke, die die Gaien-nishi-Straße überspannte, stehen, um sie eine Weile zu betrachten. Niemand außer ihr schien von den beiden Monden Notiz zu nehmen. Die verwunderten Blicke der Passanten streiften nur Aomame, die an das Geländer gelehnt in den Himmel hinaufschaute. Für den Himmel oder die Monde schien sich niemand zu interessieren. Die Leute strebten nur eilig der U-Bahn-Station entgegen. Beim Anblick der Monde überkam Aomame die gleiche körperliche Mattheit wie am Tag zuvor. Ich muss aufhören, sie anzustarren, dachte sie. Sie haben keinen guten Einfluss auf mich. Doch obwohl sie angestrengt in eine andere Richtung sah, spürte sie die Blicke der Monde ganz deutlich auf ihrer Haut. Sie beobachteten sie, auch wenn sie nicht hinschaute. Die Monde wussten genau, was sie vorhatte.
Aomame und die alte Dame tranken heißen, starken Kaffee aus bemalten antiken Tassen. Die alte Dame träufelte eine winzige Menge Milch über den Rand in ihre Tasse und nahm einen Schluck, ohne umzurühren. Auf Zucker verzichtete sie. Aomame trank ihren Kaffee wie immer schwarz. Tamaru hatte die versprochenen Sandwiches serviert. Sie waren so klein geschnitten, dass sie sich mit einem Bissen verzehren ließen. Aomame aß mehrere davon. Sie waren nicht üppig belegt, nur dunkles Brot mit Gurken und Käse, hatten aber einen feinen Geschmack. Tamaru beherrschte die Kunst, einfache Speisen erlesen und akkurat zuzubereiten. Er konnte sehr geschickt und präzise mit dem Hackmesser umgehen, sodass Größe und Form sämtlicher Zutaten genau stimmten. Allein dadurch bekamen seine Kreationen eine erstaunliche Raffinesse.
»Haben Sie Ihre Angelegenheiten schon geregelt?«, fragte die alte Dame.
»Die Kleidung und die Bücher, die ich nicht mehr brauche, habe ich gespendet. Eine Tasche mit dem Nötigsten für mein neues Leben ist gepackt und steht griffbereit. Was jetzt noch in der Wohnung ist – ein paar Elektrogeräte, Koch- und Essgeschirr, Bett und Bettzeug –, benutze ich vorläufig noch.«
»Darum kümmern wir uns, wenn es so weit ist. Auch um Ihren Mietvertrag und andere Formalitäten. Sie brauchen sich keinerlei Gedanken zu machen. Sie gehen einfach mit einer kleinen Tasche, in der sich wirklich nur das Nötigste befindet, aus dem Haus.«
»Sollte ich meine Stelle nicht lieber kündigen? Vielleicht schöpft jemand Verdacht, wenn ich eines Tages plötzlich verschwinde.«
Die alte Dame stellte ihre Kaffeetasse sacht auf dem Tisch ab. »Auch darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen.«
Aomame nickte wortlos. Sie nahm noch ein Sandwich und
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