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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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drückte sie mit außergewöhnlicher Kaltblütigkeit ihren Finger in den Nacken des Toten. Auf der anderen Seite war sie jedoch völlig verängstigt. Am liebsten hätte sie alles stehen und liegen lassen und wäre aus dem Zimmer geflohen. Ich bin gleichzeitig hier und doch nicht hier, dachte sie. Ich bin an zwei Orten zugleich. Ich verstoße gegen Einsteins Theorie, aber da kann man nichts machen. Das ist das Zen des Mörders.
    Endlich waren die fünf Minuten um. Doch Aomame fügte sicherheitshalber noch eine hinzu. Noch eine Minute warten. Bei einem so wichtigen Auftrag konnte man nicht vorsichtig genug sein. Sie stand die fast endlose Minute stoisch durch. Dann zog sie behutsam den Finger zurück und untersuchte die Wunde mit ihrer Minitaschenlampe. Die Nadel hatte weniger Spuren hinterlassen als ein Mückenstich.
    Ein durch das Eindringen der feinen Nadel in diesen speziellen Punkt unterhalb des Gehirns herbeigeführter Tod hatte die allergrößte Ähnlichkeit mit einem natürlichen Tod. Jeder normale Arzt würde das für gewöhnliches Herzversagen halten. Der Mann hatte, während er am Schreibtisch saß und arbeitete, plötzlich einen Herzinfarkt bekommen und war daran gestorben. Als Folge von Überarbeitung und Stress. Etwas Unnatürliches war nicht zu entdecken, ebenso wenig bestand die Notwendigkeit einer Obduktion.
    Er war ein tüchtiger, vitaler Mann gewesen, hatte aber zu viel gearbeitet. Er hatte viel verdient, aber nun, da er tot war, nutzte ihm das auch nichts mehr. Auch wenn er einen Anzug von Armani trug und in einem Jaguar herumfuhr, war er letzten Endes eine Ameise. Arbeiten, nichts als arbeiten, und dann ein sinnloser Tod. Nicht lange, und es würde in Vergessenheit geraten, dass er überhaupt existiert hatte. Der Arme, er war noch jung, würden die Leute vielleicht sagen. Oder vielleicht auch nicht.
    Aomame zog den Korken aus der Tasche und steckte die Spitze der Nadel hinein. Sie wickelte ihre zierliche Waffe wieder in das dünne Tuch und legte sie in das Hartschalenetui, das sie tief in ihrer Umhängetasche verstaute. Sie holte sich ein Handtuch aus dem Bad und wischte alle Fingerabdrücke im Zimmer sorgfältig ab. Nur auf dem Schaltbrett der Klimaanlage und am Türknauf konnten welche sein. Sonst hatte sie nichts angefasst. Dann legte sie das Handtuch zurück. Sie räumte die Kaffeekanne und die Tasse auf das Tablett vom Zimmerservice und stellte es in den Gang. So würde der Kellner, der das Geschirr abholen kam, nicht an die Tür klopfen, und die Entdeckung der Leiche würde sich verzögern. Im günstigsten Fall würde sie erst nach dem Check-out am nächsten Tag gefunden werden, wenn das Zimmermädchen zum Saubermachen kam.
    Das Nichterscheinen des Mannes zu der am Abend stattfindenden Konferenz würde eventuell dazu führen, dass man ihn auf seinem Zimmer anrief. Aber niemand würde abnehmen. Möglicherweise wäre jemand beunruhigt und würde den Manager die Tür öffnen lassen. Vielleicht aber auch nicht. Das hing vom Verlauf der Dinge ab.
    Aomame überzeugte sich vor dem Spiegel im Badezimmer, dass ihre Kleidung nicht in Unordnung geraten war. Sie schloss den obersten Knopf ihrer Bluse. Es war nicht nötig gewesen, ihr Dekolleté zu zeigen. Die miese Ratte hatte ohnehin so getan, als sei sie Luft für ihn. Für was hielt der sich eigentlich? Sie verzog das Gesicht. Dann ordnete sie ihr Haar, massierte leicht mit den Fingern ihr Gesicht, um die Muskeln zu lockern, und lächelte liebenswürdig in den Spiegel. Sie bleckte die weißen Zähne, die sie erst kürzlich vom Zahnarzt hatte reinigen lassen. So, jetzt werde ich das Zimmer mit der Leiche verlassen und in die gute alte Wirklichkeit zurückkehren, dachte sie. Ich muss einen atmosphärischen Druckausgleich vornehmen. Ich bin keine kaltblütige Mörderin. Ich bin eine charmante, smarte Geschäftsfrau in einem scharfen Kostüm.
    Aomame öffnete die Tür einen Spalt, sondierte die Umgebung und glitt, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand im Flur war, aus dem Zimmer. Sie benutzte nicht den Aufzug, sondern ging zu Fuß die Treppe hinunter. Niemand achtete auf sie, als sie das Foyer verließ. Sie straffte ihren Rücken, schaute nach vorn und ging rasch davon. Nicht so schnell jedoch, dass sie Aufmerksamkeit erregt hätte. Sie war ein Profi. Ein fast perfekter Profi. Wenn ich nur einen etwas größeren Busen hätte, wäre ich ein tadelloser Profi, dachte Aomame bedauernd. Wieder verzog sie leicht das Gesicht. Aber da war nichts zu

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