1Q84: Buch 1&2
zu lesen. Es war ein Buch über Magie, in dem diskutiert wurde, welche Funktion der Fluch in der japanischen Gesellschaft erfüllte. Flüche hatten in den Gesellschaften der Antike eine bedeutende Rolle gespielt, indem sie Mängel und Widersprüche im gesellschaftlichen System verdeckten und ausglichen. Vergnügliche Zeiten mussten das gewesen sein.
Obwohl es schon fünf nach sechs war, tauchte Fukaeri nicht auf. Ohne sonderlich beunruhigt zu sein, las Tengo in seinem Buch. Es war keine große Überraschung für ihn, dass seine Verabredung unpünktlich war. Die Sache war insgesamt unmöglich. So konnte sich auch keiner beschweren, wenn etwas Unmögliches dabei herauskam. Sollte Fukaeri ihre Meinung geändert haben und sich nicht blicken lassen, wäre das nicht weiter verwunderlich. Eigentlich wäre er sogar fast dankbar, wenn sie nicht erschien. Das würde die Sache einfacher machen. Er könnte Komatsu mitteilen, dass er eine Stunde gewartet habe, Fukaeri aber nicht gekommen sei. Was dann werden würde, wusste er nicht. Er würde allein essen und könnte dann nach Hause fahren. Und hätte seine Verpflichtung Komatsu gegenüber erfüllt.
Fukaeri erschien um sechs Uhr zweiundzwanzig. Sie wurde von einem Kellner an den Tisch geleitet und setzte sich Tengo gegenüber. Ohne ihren Mantel auszuziehen, die kleinen Hände auf den Tisch gelegt, blickte sie Tengo an. Weder entschuldigte sie sich für ihr Zuspätkommen, noch bedauerte sie, dass sie ihn hatte warten lassen. Sie begrüßte ihn nicht einmal oder stellte sich vor. Die Lippen fest aufeinandergepresst, schaute sie Tengo einfach an. Als würde sie aus einiger Entfernung eine unbekannte Landschaft betrachten. Respekt, dachte Tengo.
Fukaeri war klein und zierlich gebaut, und ihr Gesicht war noch schöner als auf dem Foto. Das Anziehendste daran waren die Augen. Eindrucksvolle Augen von großer Tiefe. Tengo wurde nervös, als sie ihn mit ihren feuchten lackschwarzen Pupillen anstarrte. Sie blinzelte fast überhaupt nicht. Sie schien nicht einmal zu atmen. Ihre Haare waren so glatt, als seien sie einzeln mit dem Lineal gezogen. Die Form ihrer Augenbrauen passte gut zu ihrer Frisur. Wie es bei vielen hübschen Teenagern der Fall ist, fehlte es ihrem Ausdruck an Lebhaftigkeit. Zudem war eine gewisse Unausgewogenheit darin wahrzunehmen, was vielleicht daran lag, dass das rechte und das linke Auge sich ein wenig unterschieden. Der Anblick verursachte ein Gefühl von Unbehagen. Er machte unwägbar, was sie dachte. In dieser Hinsicht gehörte sie nicht zu jenem Typ schöner Frauen, die Fotomodell oder Popstar wurden. Stattdessen hatte sie etwas, das anziehend und störend zugleich wirkte.
Tengo klappte sein Buch zu und legte es beiseite. Er nahm eine aufrechte Haltung ein und trank einen Schluck Wasser. Es war genau, wie Komatsu gesagt hatte. Falls diese junge Frau einen Literaturpreis bekäme, würden die Medien nicht mehr von ihr ablassen. Ganz ohne Zweifel gäbe es eine kleine Sensation. Sollte man so etwas wirklich tun?
Der Kellner brachte ihr ein Glas Wasser und die Speisekarte. Noch immer rührte Fukaeri sich nicht. Ohne nach der Speisekarte zu greifen, sah sie Tengo nur weiter an. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als Guten Tag zu sagen. Neben ihr kam er sich noch größer vor.
Fukaeri starrte ihn weiter an, ohne die Begrüßung zu erwidern. »Ich kenne Sie«, sagte sie kurz darauf mit leiser Stimme.
»Du kennst mich?«, fragte Tengo.
»Sie lehren Mathematik.«
Tengo nickte. »Genau.«
»Ich habe zweimal zugehört.«
»Meinem Mathematikunterricht?«
»Ja.«
Sie hatte eine sehr eigentümliche Art zu sprechen. Schnörkellose Sätze, mit einem chronischen Mangel an Betonung und einem sehr begrenzten (zumindest machte es diesen Eindruck auf ihn) Vokabular. Wie Komatsu gesagt hatte – ganz sicher ungewöhnlich.
»Das heißt, du warst Schülerin an meiner Yobiko?«, fragte Tengo.
Fukaeri schüttelte den Kopf. »Ich hab bloß zugehört.«
»Eigentlich darf niemand ohne Schulbescheinigung in die Klassenräume.«
Fukaeri zuckte nur kurz mit den Schultern, als wolle sie sagen: So kann auch nur ein Erwachsener reden.
»Wie fandest du die Stunde?«, fragte Tengo. Eine weitere sinnlose Frage.
Fukaeri nahm einen Schluck Wasser. Sie machte ein gelangweiltes Gesicht und gab keine Antwort. Aber da sie ein zweites Mal in seinen Unterricht gekommen war, konnte der erste Eindruck ja wohl nicht allzu schlecht gewesen sein, dachte Tengo. Hätte sie kein Interesse gehabt,
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