1Q84: Buch 1&2
Frage noch einmal selbst, um seine Aufmerksamkeit von ihren Brüsten und Fingern abzulenken.
»Der Fluss der Mathematik gleicht dem von Wasser«, sagte Tengo. »Natürlich gibt es eine Menge komplizierter Theorien, aber die konkrete Basis ist sehr einfach. Es ist wie beim Wasser, das sich, wenn es von oben nach unten fließt, stets die kürzeste Distanz sucht und dabei ganz natürlich seinen Weg findet. Du musst nur genau hinsehen. Ohne etwas zu tun. Wenn man sich konzentriert und die Augen aufhält, klärt sich alles von selbst. Nichts auf dieser großen weiten Welt verhält sich so zuvorkommend wie die Mathematik.«
Fukaeri dachte kurz nach.
»Warum schreiben Sie«, sagte sie in einem Ton, dem jede Melodie fehlte.
Tengo wandelte ihre Frage in einen längeren Satz um. »Wenn mir die Mathematik solchen Spaß macht, bräuchte ich mich doch nicht so anzustrengen und auch noch zu schreiben? Würde es nicht genügen, wenn ich mich ganz der Mathematik widmete? Ist es das, was du sagen möchtest?«
Fukaeri nickte.
»Weißt du, es ist so. Das wirkliche Leben unterscheidet sich von der Mathematik. In ihm beschränken sich die Dinge nicht darauf, ihrem natürlichen Fluss zu folgen und den kürzesten Weg einzuschlagen. Für mich ist die Mathematik – wie soll ich sagen – allzu selbstverständlich. Sie ist für mich wie eine schöne Landschaft. Sie ist einfach nur das, was da ist . Sozusagen Dasein an sich. Es muss nichts daran verändert werden. Deshalb habe ich, wenn ich mich in die Mathematik vertiefe, mitunter das Gefühl, transparent zu werden, in ihr aufzugehen. Manchmal macht mir das Angst.«
Fukaeri wandte ihren Blick nicht von ihm. Als würde sie ihr Gesicht an eine Fensterscheibe drücken und in ein leeres Haus spähen.
»Wenn ich schreibe«, sagte Tengo, »verwandle ich die mich umgebende Landschaft in etwas, das mir angemessener ist.
Im Grunde erschaffe ich sie neu. Damit verorte ich mich als Mensch auf dieser Welt, vergewissere mich meiner Existenz. Das ist eine völlig andere Beschäftigung als die mit der Mathematik.«
»Sich seiner Existenz vergewissern«, sagte Fukaeri.
»Ich kann es nicht besonders gut ausdrücken«, sagte Tengo.
Fukaeri sah nicht aus, als hätte Tengos Erklärung sie überzeugt, aber sie sagte nichts mehr. Sie führte nur ihr Weinglas zum Mund. Sie schlürfte ein bisschen, und es klang, als würde sie einen Strohhalm benutzen.
»Letztlich hast du das Gleiche getan, wenn ich so sagen darf. Du hast etwas, das du gesehen hast, mit deinen Worten verwandelt und neu geschaffen. Und dich und deine Existenz als Mensch darin verortet«, sagte Tengo.
Das Weinglas in der Hand, dachte Fukaeri einen Moment nach, äußerte sich aber nicht.
»Der Prozess mündet in eine Form und wird zu etwas Bleibendem. Einem Werk«, fuhr Tengo fort. »Und wenn dieses Werk die Anerkennung und das Interesse vieler Menschen erregt, ist es ein literarisches Werk, das einen objektiven Wert hat.«
Fukaeri schüttelte entschieden den Kopf. »Form interessiert mich nicht.«
»Die Form interessiert dich nicht?«, wiederholte Tengo.
»Form hat keine Bedeutung.«
»Aber warum hast du dann diesen Roman geschrieben und für den Debütpreis eingereicht?«
Fukaeri stellte das Glas auf den Tisch. »Das war ich nicht.«
Um sich zu beruhigen, nahm Tengo sein Wasserglas und trank einen Schluck. »Heißt das, du hast dich gar nicht um den Debütpreis beworben?«
Fukaeri schüttelte den Kopf. »Ich habe das Manuskript nicht eingeschickt.«
»Na gut, aber wer dann? Wer hat sich für dich beworben?«
Nur ein leichtes Schulterzucken. Etwa fünfzehn Sekunden vergingen.
»Irgendwer«, sagte sie dann.
»Irgendwer«, wiederholte Tengo und stieß zwischen auf- einandergepressten Lippen einen Seufzer hervor. Puh! Die Sache entwickelte sich nicht gerade reibungslos. Genau wie er es befürchtet hatte.
Tengo hatte sich in der Vergangenheit öfter privat mit Schülerinnen von seiner Yobiko getroffen. Das heißt, mit ehemaligen Schülerinnen, die inzwischen studierten. Rief ihn eine von sich aus an und schlug eine Verabredung vor, ging er darauf ein. Tengo hatte keine Ahnung, was die Mädchen an ihm fanden. Andererseits war er ja ungebunden, und sie waren nicht mehr seine Schülerinnen. Es gab also keinen Grund, ein Rendezvous auszuschlagen.
Nur zweimal war es dabei zu einer körperlichen Beziehung gekommen. Doch die Bekanntschaften hatten nie länger gedauert und ein unspektakuläres, natürliches Ende gefunden. Tengo
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