1Q84: Buch 1&2
wäre sie sicher nach dem ersten Mal fortgeblieben.
»Du bist in der zwölften Klasse, stimmt’s?«, fragte Tengo.
»Kann man so sagen.«
»Machst du die Aufnahmeprüfung für eine Universität?«
Sie schüttelte den Kopf.
Tengo konnte nicht beurteilen, ob das heißen sollte: »Ich will nicht über die Aufnahmeprüfung reden« oder: »Ich mache keine.« Er erinnerte sich, dass Komatsu am Telefon gesagt hatte, sie sei ein erstaunlich wortkarges Mädchen.
Der Kellner kam, um ihre Bestellung aufzunehmen. Fukaeri hatte noch immer ihren Mantel an. Sie bestellte Salat mit Brot. »Das ist alles«, sagte sie und reichte dem Kellner die Speisekarte zurück. »Und ein Glas Weißwein«, fügte sie hinzu, als sei es ihr plötzlich eingefallen.
Der junge Kellner schien sie nach ihrem Alter fragen zu wollen, aber unter Fukaeris starrem Blick errötete er und schluckte die Frage hinunter. Respekt, dachte Tengo erneut. Er bestellte Linguini mit Meeresfrüchten und wie sein Gast ein Glas Weißwein.
»Sie sind Lehrer und schreiben«, sagte Fukaeri. Offenbar richtete sie damit eine Frage an Tengo. Das Fehlen jeglicher fragender Intonation gehörte zu den Eigenheiten ihrer Sprechweise.
»Im Augenblick, ja«, sagte Tengo.
»Keins von beidem sieht man Ihnen an.«
»Das kann sein«, sagte Tengo. Er wollte lächeln, aber es gelang ihm nicht richtig. »Ich habe zwar Lehramt studiert und unterrichte, aber offiziell kann ich mich nicht Lehrer nennen, und ich schreibe zwar, aber ein Schriftsteller bin ich auch nicht, weil noch nichts von mir gedruckt wurde.«
»Also keins von beidem.«
Tengo nickte. »Genau. Im Augenblick bin ich nichts.«
»Sie mögen Mathematik.«
Tengo beantwortete ihre mit typischer Betonungslosigkeit gestellte Frage. »Ja, sehr. Schon früher und jetzt auch noch.«
»Warum.«
»Du meinst, was mir an der Mathematik gefällt?«, ergänzte Tengo. »Tja, also, wenn ich mich Zahlen gegenübersehe, entspanne ich mich augenblicklich. Die Dinge sind dann da, wo sie sein sollten.«
»Das mit der Integralrechnung fand ich interessant.«
»In meinem Unterricht an der Yobiko?«
Fukaeri nickte.
»Magst du Mathematik?«
Fukaeri schüttelte kurz den Kopf. Sie mochte Mathematik nicht.
»Aber die Integralrechnung hat dich interessiert?«, fragte Tengo.
Fukaeri zuckte leicht mit den Schultern. »Sie haben darüber gesprochen, als läge sie Ihnen am Herzen.«
»Aha.« Es war das erste Mal, dass jemand ihm das sagte.
»Wie von einem Menschen, den Sie gern haben«, sagte sie.
»Vielleicht gerate ich zu sehr in Begeisterung, wenn ich über arithmetische Reihen referiere«, erklärte Tengo. »Von allen Bereichen der Oberschulmathematik gefallen mir persönlich die Reihen am besten.«
»Sie mögen die Reihen«, fragte Fukaeri wieder ohne fragende Intonation.
»Für mich sind sie wie Bachs Wohltemperiertes Klavier . Ich bekomme sie nie satt. Entdecke immer Neues an ihnen.«
»Das Wohltemperierte Klavier kenne ich.«
»Magst du Bach?«
Fukaeri nickte. »Der Sensei hört ihn immer.«
»Der Sensei?«, fragte Tengo. »Meinst du einen Lehrer an deiner Schule?«
Fukaeri antwortete nicht. Ihre Miene besagte, dass es noch zu früh sei, um darüber zu reden.
Dann – als sei es ihr gerade eingefallen – zog sie ihren Mantel aus. Sie wand sich wie ein Insekt, das sich aus seiner Verpuppung schält, und legte ihn anschließend, ohne ihn zusammenzufalten, auf den Stuhl neben sich. Unter dem Mantel trug sie einen leichten hellgrünen Pullover und weiße Jeans. Keinen Schmuck. Und auch kein Make-up. Dennoch fiel sie auf. Ihre im Verhältnis zu ihrem zarten Körperbau großen Brüste zogen ungewollt die Blicke auf sich. Sie waren auch sehr schön geformt. Er musste sich davor hüten, dauernd hinzuschauen. Aber noch während er dies dachte, ertappte er sich dabei. Es war, als würde sein Blick ins Zentrum eines mächtigen Strudels gesogen.
Der Weißwein wurde serviert. Fukaeri nahm einen Schluck davon. Sie betrachtete nachdenklich das Glas und stellte es wieder auf den Tisch. Tengo nippte nur zum Schein an seinem Wein. Er hatte noch ein wichtiges Gespräch vor sich.
Fukaeri griff sich in ihr glattes schwarzes Haar und fuhr mit den Fingern hindurch wie mit einem Kamm. Es war eine bezaubernde Geste. Sie hatte wunderschöne Hände. Jeder ihrer schlanken Finger sah aus, als verfüge er über eigene Absichten und Pläne. Ihm war, als besitze sie magische Kräfte.
»Was mir an der Mathematik gefällt?«, stellte Tengo sich die
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